Was wir bei Pro Senectute aus Corona lernten

Die Solidarität wirkte – hervorragend. Aber wie war das mit den (totgeglaubten) Bildern der hilfsbedürftigen Alten?

VON THOMAS DIENER, VORSITZENDER DER GESCHÄFTSLEITUNG VON PRO SENECTUTE KANTON ST. GALLEN




Es war Freitag, der 13. März, als wir uns in der Geschäftsleitung von Pro Senectute Kanton St. Gallen ernsthaft Gedanken machten, ob und unter welchen Voraussetzungen wir Kurse und Veranstaltungen noch weiterführen können.

Sorgen bereitete uns auch, wie lange es noch zu verantworten ist, die gegen 500 Mitwirkenden unserer Organisation im Pensionsalter weiterhin im Einsatz zu behalten – sie, die für Pro Senectute so wichtig sind zur Sicherstellung von zentralen Diensten wie Hilfen im Haushalt, Mahlzeitendienst, Hilfe bei administrativen Aufgaben, aber auch als Kurs- und Gruppenleitende.

In Nullkommanichts stellten wir alle zusammen auf den Krisenmodus um

Der Rest ist schon Geschichte. Die Ereignisse überstürzten sich. Der Bundesrat beschloss am 15. März einschneidende Notmassnahmen. Am Abend des 16. März 2020 wurde der «Lockdown» Wirklichkeit. Die Leute über 65 wurden sehr eindringlich aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

Jetzt war die Sache klar; die Zeit des «Wenn und Aber» vorbei. Unsere Organisation musste definitiv handeln: Alle Mitwirkenden ab 65 wurden informiert, dass sie – selbstverständlich entschädigt – keine Einsätze mehr machen dürfen.

Am Abend des 16. März 2020 wurde der ‹Lockdown› Realität. Die Leute über 65 wurden sehr eindringlich aufgefordert, im Haus zu bleiben.





Die Kursteilnehmenden setzten wir mündlich und schriftlich in Kenntnis, dass bis auf Weiteres keine Veranstaltungen mehr stattfinden. Der Steuererklärungsdienst und die administrativen Hilfen wurden neu organisiert. Ebenfalls der Mahlzeitendienst und die Hilfen zu Hause, die jetzt besonders wichtig waren. Ein grosser Teil des Fachpersonals ging ins Homeoffice.

Pro Senectute Kanton St. Gallen funktioniert wie ein Uhrwerk

Das Erfreuliche und von mir in diesem Ausmass nicht Erwartete: Innerhalb weniger Tage gelingt es, einige tausend wichtige Einsätze bei sehr alten Menschen, die dringend auf Hilfe angewiesen sind, neu zu organisieren: mit dem uns verbleibenden Personal und in einigen Regionen auch unter Mithilfe der Zivilschutz- und weiterer Partnerorganisationen. (Siehe Medientext zur «Lockdown»-Situation «Pro Senectute Kanton St. Gallen erbringt trotz Corona alle Dienstleistungen» vom 12. April 2020.)

Unsere Organisation funktioniert(e) auch in einer Krisensituation. Das ist hoch erfreulich und gut zu wissen.




Alle packen an, in grosser Selbstverständlichkeit und ohne Lamentieren. Pro Senectute im Kanton St. Gallen ist also gut aufgestellt. Wir taten das Richtige und Notwendige. Unsere Organisation funktioniert(e) auch in einer Krisensituation. Das ist hoch erfreulich und gut zu wissen.

Angehörigen- und Nachbarschaftshilfe – auch sie klappen bestens

Und noch etwas sehr Erfreuliches: Die Angehörigen- und die Nachbarschaftshilfe funktionieren, und wie! Ob im Dorf oder in städtischen Quartieren – es wird geholfen. Rasch und unkompliziert. Unter denen, die Unterstützung anbieten, befinden sich sehr viele Jugendliche und junge Menschen.

Wie wurde vor Corona bemängelt und bezweifelt, dass die Leute nur noch auf sich bezogen sind, sich nicht mehr wahrnähmen. Dass es um die Solidarität zwischen den Generationen nicht gut bestellt sei. Und jetzt das. Allen Unkenrufen zum Trotz. Die Leute halten zusammen!

Akzeptieren, dass alte Menschen sich oft gut selber helfen können

Die Solidaritätswelle treibt aber auch ein paar seltsame Blüten. Da glaubten wohl viele, dass alte Menschen grundsätzlich hilfsbedürftig sind und sich kaum zu organisieren wissen. Und dies anscheinend schon ab Alter 65.

Am besten erkundigt sich man sich direkt im Wohnumfeld, ob jemand Hilfe braucht und wie am besten geholfen werden kann. Die Leute sagen es schon, wenn sie etwas brauchen!





Also los von Rom und helfen, was das Zeug hält. Da werden Hunderte von Internetplattformen gebaut, auf denen eingetragene Hilfswillige auf Hilfesuchende treffen wollen. Viele der Unterstützungswilligen warten bis heute. Sind die Alten nicht in der Lage, Hilfe anzumelden? Trauen sie sich nicht? Oder sind sie verschlossen? Misstrauisch?

Am einfachsten ist, man erkundigt sich im Wohnumfeld und ganz direkt, wer Hilfe braucht und womit am besten geholfen werden kann. Die Leute sagen es schon, wenn sie etwas brauchen! Und wenn nicht, ist das auch zu akzeptieren.

Vom potenten Babyboomer plötzlich in die Hilfsbedürftigkeit?

Eine Erkenntnis daraus: Die defizitären Bilder von den hilfsbedürftigen Alten sind anscheinend tiefer verwurzelt, als uns lieb ist und als wir dachten. Vor Corona wurden die Jahrgänge der 65 plus – die sogenannte Babyboomer-Generation – als die «50-Jährigen von Gestern» bezeichnet: ausgestattet mit Lebensenergie, mit Tatendrang und dem Potential, sicher bis 70 im Arbeitsprozess zu verbleiben. Und jetzt?

Eigentlich sollte ja allen längst klar sein, dass sich diese Menschen zu helfen wissen und gut trainiert sind, sich zu organisieren. Aber auch gelassen genug, um nicht gleich in Panik zu geraten.

Es besteht halt wirklich ein Unterschied zwischen einem sportlichen 65-Jährigen, einer kerngesunden 70-Jährigen – und einer oder einem 95-Jährigen mit Vorerkrankungen.





Sicher trug die dringende Aufforderung, dass die Generation 65 plus zu Hause bleiben musste, leider auch dazu bei, vermeintlich überwundene Bilder des hilflosen Alters wieder aufleben zu lassen...

Altersgrenze bitte differenziert betrachten!

Es ist darum dringend wichtig, die Risikogruppen differenzierter zu beschreiben. Das biologische Alter, das sich nicht an einer Zahl festmachen lässt, ist nur einer von sehr vielen Risikofaktoren. Dazu weiss die Wissenschaft jetzt glücklicherweise mehr.

Es besteht halt wirklich ein Unterschied zwischen einem sportlichen 65-Jährigen, einer kerngesunden 70-Jährigen – und einer oder einem 95-Jährigen mit Vorerkrankungen. Oder auch einem jungen Menschen mit einer Erkrankung – Diabetes, Bluthochdruck...

Apropos 65 plus: Zwischen den Jüngsten und den Ältesten dieser riesigen Bevölkerungsgruppe liegen notabene eine, manchmal fast zwei Generationen!

Und die Alten sind krisenresistent

Und noch eine Erkenntnis, die zwar alles andere als neu ist, jetzt aber wieder aktuell wurde: Alte und sehr alte Menschen sind viel krisenresistenter, als viele glauben wollen. Für sie ist die Aufforderung, zu Hause zu bleiben, (oft) nicht ganz so dramatisch. Denn etwa aufgrund körperlicher Einschränkungen ist das eher gewohnter Alltag – vor und nach Corona.

Auch mit der Angst vor einer Ansteckung gehen alte Menschen eher gelassener um als die jüngere Generation. Das ist nicht Fatalismus, wie ihnen hin und wieder unterstellt wird. Sie sind oft einfach lebenserfahren.

Ihnen ist aus eigenem Erleben klar, dass Krisen kommen. Dass es sie gibt. Und dass sie sich wieder verziehen. Sie sind sich aber auch bewusst(er), dass das Leben endlich ist. Und stürzen nicht gleich in Panik, wenn sie ans Lebensende denken. Das macht sie stoischer. Wir sollten diese Gelassenheit nicht gleich als Nachlässigkeit oder Ignoranz deuten.

Was wir lernten: Wünschbares von Notwendigem besser zu unterscheiden

Was ist also die Lehre aus Corona? Wir wissen jetzt mehr darüber, was funktioniert. Wir wissen besser, wer Hilfe braucht und was benötigt wird. Wir lernten, mit den Gefahren besser umzugehen – ohne nachlässig zu werden.

Wir tun gut daran, den Zusammenhalt der Bevölkerung auch ausserhalb von Krisenzeiten zu stärken und zu fördern. Pro Senectute Kanton St. Gallen hat sich eben dies seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht.






Noch ist zwar an Freiheiten nach dem «Lockdown» nicht wieder alles möglich. Wir alle können jetzt aber auch besser zwischen Wünschbarem und Notwendigem trennen. Um diese Erfahrungen und Erkenntnisse sind wir reicher. Die nehmen wir mit und bleiben zuversichtlich.

Pro Senectute will (wollte schon immer) Sorgegemeinschaften auch ausserhalb der Krise

Ausserdem ganz wichtig: Wir tun gut daran, den Zusammenhalt der Bevölkerung auch ausserhalb von Krisenzeiten zu pflegen, zu stärken und zu fördern. Pro Senectute Kanton St. Gallen hat es sich seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, Angehörige, Nachbarn und Dorf- und Quartiergemeinschaften bei der Bildung von generationenübergreifender Sorgegemeinschaften zu unterstützen (auch ältere Menschen können Jüngere unterstützen – Stichwort Kinderhüten; schon vergessen?), die Dorf- und Quartiergemeinschaften aber auch mit professioneller Hilfe zu entlasten. Da bleiben wir natürlich dran.

Herzlichen Dank daher an alle Mitwirkenden von Pro Senectute Kanton St. Gallen – auch an jene, die ungewollt vorübergehend pausieren mussten und müssen.

Aber in Bälde gerne wieder mit dabei sind!
 

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Informationskampagne von Pro Senectute Schweiz zum Thema Generationensolidarität

Die Coronavirus-​Pandemie stellt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor grosse Herausforderungen. Die Gesellschaft ist mit einer Notlage konfrontiert, die Unsicherheit mit sich bringt. Die auf Bundesebene verordneten Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus lösten in der Bevölkerung Diskussionen aus und stellen das gesellschaftliche Miteinander auf eine Bewährungsprobe.

Sind die Massnahmen zum Schutz des Gesundheitssystems und der besonders gefährdeten Personen, darunter vorwiegend ältere Menschen, gerechtfertigt? Darf ich mich als Seniorin oder Senior noch draussen zeigen, oder werde ich komisch angeschaut? Tragen die aktuell Erwerbstätigen alleine den wirtschaftlichen Schaden?

All diese Fragen drängen in den Hintergrund, was unsere Gesellschaft ausmacht: ein funktionierendes Miteinander aller Generationen. So sind in schwierigen Zeiten gegenseitiges Verständnis, Wertschätzung und Solidarität wichtiger denn je. Das Miteinander von Jung und Alt setzt Pro Senectute in den Fokus ihrer aktuellen Kampagne. Informationen dazu finden Sie hier.