«Ich wünsche mir weniger Angst und mehr individuelle Verantwortung beim Ausgestalten der Schutzmassnahmen»

Prof. Dr. med. Pietro Vernazza, Chefarzt der Infektiologie am Kantonspital St. Gallen und einer der erfahrensten Infektiologen in der Schweiz, findet die Angst vor Covid-19 verständlich – aber gemessen an der Bedrohungslage übertrieben. Es sind gerade die älteren Menschen, die heute viele Einschränkungen im Alltagsleben, freiwillig, aber auch erzwungen, hinnehmen müssen. Vernazza plädiert für – weniger Angst. Und dass den einzelnen Menschen mehr Kompetenzen und Verantwortung eingeräumt werden, wie sie für sich die Schutzmassnahmen ausgestalten wollen. Vielleicht gerade auch den alten Menschen in den Institutionen – ob sie nun ihre Enkel noch sehen möchten. Oder nicht.

VON PROF. DR. MED. PIETRO VERNAZZA

Seit dem Frühjahr, so könnte man meinen, ist die Welt eine andere. Wir haben mit dem Coronavirus ein Problem, und vor allem die älteren Menschen haben ein Problem. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass wir nicht einmal genau wissen, was denn unser Problem ist. Ich würde sagen, die beiden grössten Probleme sind unsere Angst und die Wahl der richtigen Massnahmen.

Viele Menschen – jung und alt – haben Angst. Eine neue Angst vor einem neuen Virus. Angst ist ein grosses Problem für jeden Menschen. Sie hindert uns daran, uns unbeschwert zu verhalten. Angst ist ein wichtiges Gefühl. Sie hilft uns, uns vorzusehen, uns zu schützen vor Bedrohungen.

Mein persönliches Problem mit der Angst vor Corona ist, dass ich die reelle Bedrohungslage als Infektiologe etwas anders einstufe, als uns diese vermittelt wird. Die Angst ist aus meiner Sicht gemessen an der Bedrohungslage übertrieben. Eine übertriebene Angst kann lähmend werden. Dann schützt sie uns nicht mehr wirksam vor einer Bedrohung. Sie kann zu einem Schutzverhalten führen, das uns letztendlich schadet. Vielleicht haben wir mit unserer Angst vor Corona wirklich übertrieben. Damit meine ich nicht, dass Corona uns nicht gefährden kann. Sicher ist es eine Infektionskrankheit, die wir ernst nehmen müssen. Deshalb diskutieren wir ja mit Recht auch über Massnahmen, die wir einführen, um der Bedrohung zu begegnen. Aber wir müssen schauen, dass wir nicht aus einer unbegründet übertriebenen Angst übertriebene Massnahmen fordern.

Massnahmen sind für alle ein Problem...

Damit sind wir beim zweiten Problem, bei den Massnahmen: Wir haben alle ein Problem mit den Massnahmen: Der Politiker, die Politikerin hat das Problem, die richtige Massnahme zu definieren. Heimleiterinnen und Heimleiter sind gefordert, für ihre Bewohnerinnen und Bewohner ein vernünftiges Massnahmenpaket zu schnüren. Und älteren Menschen selbst haben nicht selten ein Problem, wenn sie wegen beschlossener Massnahmen nicht mehr ihr freies Leben führen dürfen.

... allein, die Wirksamkeit wird selten überprüft

Massnahmen sind grundsätzlich gut gemeint. Jede und jeder möchte das Beste, und für alle. Doch es ist schwierig, zu erkennen, welche Massnahme am wirksamsten ist. Internationale Studien konnten bisher von keiner Massnahme eine Senkung der Todesfallraten nachweisen. Zur fehlenden Evidenz gesellt sich nun noch die Angst. Neue Massnahmen werden erlassen, aber selten deren Wirksamkeit überprüft.

Die Älteren trifft's am schwersten

Und so gut sie immer gemeint sind, Massnahmen schränken ein. Und es sind gerade die älteren Menschen, die heute viele Einschränkungen im Alltagsleben, freiwillig, aber auch erzwungen hinnehmen müssen. Wenn eine Grossmutter ihre Enkel sehen will, so wird ein solcher Besuch auch von der Umgebung nicht selten als verantwortungslose Handlung verurteilt. Dabei wäre es doch durchaus auch einem Grossvater anheimgestellt, für sich selbst zu entscheiden, welchen persönlichen Umgang mit einem allgemeinen Lebensrisiko er wählt. Und jeder Mensch wird seine eigenen Risiken im Leben individuell einstufen. Das war immer schon so und soll auch weiterhin so bleiben.

Ohne Kontakte keine Lebensqualität

Kontakte zwischen Menschen bilden einen wichtigen Bestandteil unserer Lebensqualität. Das bleibt auch im Alter gültig. Ein Bekannter, der in einem Altersheim wohnt, hat mir erzählt, dass er ein Leben ohne Kontaktmöglichkeiten nicht mehr als lebenswert einstuft.

Lasst uns daran arbeiten, unsere Ängste immer wieder mit der realen Bedrohungslage abzugleichen und dem Individuum mehr Kompetenzen und Verantwortung bei der individuellen Ausgestaltung von vernünftigen Schutzmassnahmen einzuräumen.


Prof. Dr. med. Pietro Vernazza ist seit 2000 Chefarzt der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen und einer der erfahrensten Infektiologen der Schweiz. Am KSSG arbeitet er seit 1985. Seine Forschungen zur Übertragung von HIV sind weltweit bekannt und wurden weltweit beachtet. Sie brachten die Behandlung HIV-Infizierter entscheidend voran. So war Vernazza einer der ersten, die erkannten, dass durch moderne antiretrovirale Medikamente die Virenbelastung («virus load») so tief gehalten werden kann, dass gut behandelte Personen mit HIV nicht mehr ansteckend sind, und die dies auch propagierten. Dies ermöglichte es etwa HIV-positiven Frauen, ohne Übertragungsrisiko auf das Kind Mutter zu werden. mw., Bild: zVg.

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