«Es braucht den direkten Kontakt – die Teilhabe»

Drei Dinge: 1. Warum wir keine Bildungsinstitution sind. 2. Warum unsere Kurse (und logischerweise auch die übrigen Dienstleistungen) unbedingt weiterlaufen müssen. 3. Warum es uns freut, dass der Begriff Betreuung immer wichtiger und vor allem nicht mehr geringgeschätzt wird. Und was dies alles miteinander zu tun hat. Ein Gespräch mit Thomas Diener, dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung von Pro Senectute Kanton St. Gallen.

INTERVIEW: MICHAEL WALTHER, REDAKTOR NEWSLETTER
PRO SENECTUTE KANTON ST. GALLEN




Herr Diener, der Bundesrat verschärfte am 28. Oktober 2020 die Corona-Massnahmen wieder. Sie reagierten am 30. Oktober mit einem Schutzkonzept. Was gilt nun bei Pro Senectute Kanton St. Gallen?

Alle Angebote laufen weiter, und zwar wie seit dem Ende des Lockdowns in diesem Sommer. Das ist der Kern unseres Selbstverständnisses: Pro Senectute Kanton St. Gallen und die ihr angeschlossenen Regionalstellen sorgen dafür, die Grundversorgung sicherzustellen.

Notabene: Wir konnten die Angebote, mit Aussnahme der Kurse und Gruppen, auch während des Lockdowns aufrechterhalten. Das seit dem Sommer gültige Schutzkonzept passten wir jetzt einfach noch einmal an:

Ob bei der Hilfe und Betreuung zu Hause, beim Mahlzeitendienst, beim Administrativen Dienst, bei der Sozialberatung: Es gilt Maskenpflicht. So sind auch Hausbesuche weiterhin möglich. Können die Abstände etwa wegen Verständigungsproblemen nicht eingehalten werden, nehmen die BeraterInnen allenfalls Plexiglasabtrennungen mit. Die gleichen Vorschriften gelten für Beratungen im Büro.

Sie führen also im Prinzip alles mit Maskenpflicht weiter. Gilt das auch für die Freizeitangebote und Kurse?

Auch für die Kurse. Mit den nötigen Sicherheitsabständen und neu immer mit Maske.

Das EDI (Eidgenössisches Departement des Inneren) schrieb jedoch, dass im Unterrichtsbereich gewisse Angebote, wie etwa Sprachkurse, gemäss der Verordnung des Bundesrats im Präsenzunterricht tatsächlich verboten sein könnten.

Das gilt für Bildungsinstitutionen – wie Universitäten und Fachhochschulen. Wir sind keine Bildungsinstitution. Die Kurse und Freizeitaktivitäten von Pro Senectute sind Teil unserer Grundversorgung: zur Gewährleistung der sozialen Teilhabe. Für Pro Senectute ist wichtig, dass sich ältere Menschen treffen können, im Austausch sind, am sozialen Leben teilhaben. Der Inhalt der Kurse ist in diesem Sinne sekundär.

Pro Senectute ist mit ihren Kursen keine Bildungsinstitution. Was dann?

Wir orientieren uns an den Vorgaben des Bundes für sportliche und kulturelle Freizeitaktivitäten, wo Präsenzveranstaltungen nicht verboten sind. Sie sind möglich mit Einschränkungen: nicht mehr als 15 Personen in Innenräumen. Plus Abstand und Maske.
Pro Senectute ist keine Bildungsinstitution. Die Kursinhalte sind für mich sekundär. Es geht darum, dass ältere Menschen weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.

Wieso verteidigen Sie Ihre Kurse und Freizeitaktivitäten so stark?

Wegen eines unserer zentralen Aufträge – die soziale Teilhabe sicherzustellen. Daran orientieren sich alle unsere Dienstleistungen. Alle. Und weil wir sonst allenfalls mit grossen gesundheitlichen Folgeschäden rechnen müssen.

Folgeschäden?

Ja, gigantische Schäden, die sich «nebenher» während der Pandemie, trotz Schutz und unbeabsichtigt ergeben.

Welche Schäden denn?

Schauen Sie, während der ersten drei Pandemiemonate im Lockdown bewiesen alle, auch die ältere Bevölkerung, eine grosse Widerstandskraft. Aber mit der Zeit wird das enorm schwierig. Wenn Menschen über längere Zeit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind, werden sie krank – viele von ihnen wirklich ernsthaft psychisch. Viele ältere Menschen sind davon besonders betroffen, weil ihre Kontaktmöglichkeiten eh schon eingeschränkter sind als bei Jüngeren. Das verschärft sich jetzt wieder. Wir müssen deshalb alle Dienste aufrechterhalten, ausser, was wirklich verboten ist. Wir müssen weiterhin möglichst viel anbieten, soweit möglich auch die Kursangebote, um die Leute nicht zu isolieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Alle Schutzmassnahmen sind wichtig. Aber es braucht jetzt auch Schutz vor den drohenden psychischen Folgeschäden.


Die Angebote von Pro Senectute Kanton St. Gallen werden – mit den nötigen Schutzmassnahmen – weitergeführt. Auch die Kurse - hier ein Augenschein der
Computeria in Wil...


Was ist eigentlich mit dem Begriff Risikogruppe?
Jein. Wir sehen bei keiner Dienstleistung – Haushilfe, Kurse und so weiter – mehr einen Grund, unsere Sozialzeit-Engagierten über 65 grundsätzlich zurückzuziehen. Es gilt individuell das Risiko allfälliger Vorerkrankungen. Das heisst, es ist sowohl den Sozialzeit-Engagierten in der Haushilfe, beim Mahlzeitendienst oder auch im Adiminstrativen Dienst als auch den Kursleiterinnen und Kursleitern über 65 selbst überlassen, ob sie Ihren Einsatz mit den geltenden Schutzmassnahmen weiterführen wollen. Oder sich zurückziehen möchten – wegen Vorerkrankungen oder Angehörigen, die unter Vorerkrankungen leiden.
Während der ersten drei Pandemiemonate bewiesen alle grosse Widerstandskraft. Wenn aber die älteren Menschen länger vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben, werden sie krank. Wir müssen deshalb möglichst alle Angbote und Dienste aufrechterhalten. Sonst werden wir gewaltige Kollateralschäden erleben.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Sie stellen erfreut fest, dass der Begriff Betreuung eine Art Imageaufwertung erfährt.

Richtig. Bisher dominierte der Begriff «Pflege» im Alter. «Betreuung» wurde eher abwertend wahrgenommen: Betreuung brauche ich doch nicht. Betreut werden kleine Kinder... Wer will das schon? Bei der Pflege sagte das niemand. Betreuung jedoch hatte dieses Stiefmütterliche. Pflege und Medizin im Alter waren wichtig. Der Rest war ein Hilfsjob – den Topf leeren, dafür sorgen, dass das Essen auf dem Tisch steht.

Betreuung war also oftmals reduziert aufs Körperliche...

Ein Stück weit ja. Eine gewisse Reduzierung auf medizinische und pflegerische Belange war schon spürbar. Das verstärkte sich zusätzlich durch die Finanzierungssysteme: Bei medizinischen und pflegerischen Leistungen greifen diese besser. Hilfe und Betreuungsleistungen müssen von den Kunden weitgehend selber finanziert werden, und in der Folge wird eher darauf verzichtet – mit den oft daraus resultierenden, auch medizinischen Problemen. Da beisst sich dann die Katze wieder in den Schwanz.

Und jetzt – woher rührt die Aufwertung des Begriffs?

In Zusammenhang mit dem betreuten Wohnen gelangte das Wort Betreuung plötzlich in aller Munde. Betreutes Wohnen – inzwischen nicht «nur» für Menschen mit Handicap, sondern auch ältere Personen – erhielt einen höheren Stellenwert. Das ist nicht zuletzt auch darum der Fall, weil mit betreutem Wohnen ein Bauwerk verbunden wird und damit auch ein direkter ökonomischer Wert.

Sind Sie gegen betreutes Wohnen?

Keineswegs. Wir verfolgen die Idee, dass betreutes Wohnen nicht nur in neuen, dafür errichteten Institutionen und Gebäuden stattfinden kann oder muss. Wobei wir nichts gegen solche Einrichtungen haben. Aber wir sind der Meinung, dass betreutes Wohnen ebenso in den vertrauten vier Wänden stattfinden kann. Wir spielen auch nicht das eine gegen das andere aus. Beide sind gleichwertig. Genau diesen Ansatz verfolgt übrigens auch die Paul-Schiller-Stiftung...

... die Paul-Schiller-Stiftung, die die Debatte um die Betreuung im Alter in der Schweiz zusätzlich anstiess.

Genau. Mit ihrer Studie unter diesem Namen, die sie im Mai veröffentlichte. Darin weist sie nach, dass der Bedarf an Betreuung im Alter in Zukunft immer wichtiger wird. Sie fordert deshalb, dass auch Betreuungsleistungen etwa via EL (Ergänzungsleistungen) finanziert und gesetzlich geregelt werden sollen. Die Stiftung pflegt dabei den gleichen Ansatz, den wir seit Jahren verfolgen.

Welchen Ansatz denn?

Die Stiftung subsumiert genau das als gute Betreuung im Alter, was auch wir darunter verstehen: Unterstützung im Alltag, im Haushalt, beim Einkaufen, in administrativen Angelegenheiten. Aber nicht nur: Die soziale Teilhabe ist für sie einer der wichtigsten Bestandteile guter Betreuung.


... und eines Yoga-Kurses bei Pro Senectute in Altstätten: Soziale Kontakte sind wichtig – je länger die Pandemie dauert, umso wichtiger. «Verödet durch die Pandemie die soziale Teilhabe» (oder sind soziale Kontakte nur noch digital möglich), sagt Thomas Diener, der Vorsitzende der Geschäftsleitung von Pro Senectute Kanton St. Gallen, «werden die psychischen Schäden und Erkrankungen massiv sein.» Glücklicherweise werden das Konzept der sozialen Teilhabe und die Vorstellungen von Pro Senectute, was unter Betreuung zu verstehen ist, nun auch von einer Stiftung mit einer wichtigen Studie unterstützt: der Paul-Schiller-Stiftung. Bilder: ps-sg.

Warum ist das für Pro Senectute wichtig?

Wenn ich unser Grundlagenpapier «Grundversorgung» mit den vier Zielen «Soziale Teilhabe erhalten, stärken und fördern», «Zugang zu Informationen und Ressourcen ermöglichen,», «Hilfe bei der Alltagsbewältigung und Betreuung gewährleisten» und »Medizinische und pflegerische Versorgung sicherstellen» durchlese, auf denen unser Verständnis von Betreuung aufbaut, dann sind wir total auf Kurs. Mit Blick auf eine bessere Finanzierung und Regelung der Betreuung im Alter sind wir im Kanton St. Gallen gut unterwegs, weil die SVA (Sozialversicherungsanstalt) ihren Auftrag recht breit interpretiert. Jetzt gilt es, diesen Aufwind für den politischen Prozess zu nutzen.

Hat der Aufwärtstrend beim Begriff Betreuung auch etwas mit Corona zu tun?

Corona schärfte das Bewusstsein, dass der menschliche Austausch wichtig ist. Man kann in einer Krise schon viel weglassen. Man konzentriert sich auf das Wesentliche – wie komme ich durch den Tag, wenn ich nicht zum Haus raus kann? Das wirft einen dann zurück auf die existenziellen Dinge. Und dazu zählen auch: das Eingebundenbleiben, der persönliche Kontakt, Beziehungen. Nicht nur die Gelegenheit zum Einkaufen. Corona zeigte, wie wichtig es ist, Sorgeteams, Sorgegemeinschaften zu stärken. Die Pandemie brachte erfreulicherweise an den Tag, dass in dieser Hinsicht viel vorhanden ist. Aber auch dass es genau dies braucht – soziale Teilhabe –, um über die Runden zu kommen. Wenn mal etwas nicht ganz so rund läuft.
Als es darum ging, ob man unsere Kurse auch digitalisieren kann, war ich dagegen. Wenn es Pro Senectute nur noch als App gäbe: das wäre für mich der Alptraum! Es braucht den sozialen Kontakt. Die Teilhabe. Immer.

Aber wir besitzen doch den Computer, digitale Kommunikationsmittel?

Behüte! Es gab Leute, die sagten, man könne unsere Kurse ja einfach digitalisieren. Der so wichtige persönliche Kontakt kann damit nicht ersetzt werden. Es gibt Dinge, die sind schon okay, zum Beispiel die Bewegungssendung «Bliib fit – mach mit» im «Tele Ostschweiz», die nach wie vor läuft. Das ist ein sehr willkommener und guter «Notnagel» für die Leute, die nur schwer aus dem Haus kommen und die sich jetzt nicht in der Turngruppe treffen können. Corona verschaffte der Digitalisierung einen grossen Schub. Das darf aber nicht dazu führen, dass traditionelle Formen der Begegnung, der physische, persönliche Kontakt, in den Hintergrund gedrängt werden wegen einer vermeintlichen digitalen Alternative...

... wie «Whatsapp», «Skype», «Zoom»...

Über «Zoom» findet keine Debatte statt. Man kann Infos austauschen, Entscheide treffen aufgrund bereits erfolgter Vorgaben, aber debattiert wird nicht. Als es darum ging, ob sich unsere Sprachkurse auch digitalisieren lassen – sie werden momentan zum Teil in einer Mischform zwischen Online- und Präsenzunterricht durchgeführt –, sagte ich Nein. Es geht wieder um die Gretchenfrage. Pro Senectute St. Gallen interessiert sich nicht dafür, wie viele Leute eine Sprache können. Sondern ob unsere Kundinnen und Kunden, die älteren Menschen, im sozialen Kontakt bleiben, sich austauschen und begegnen können. Ob sie glücklich sind. Damit Begegnungen stattfinden können, braucht es Angebote und Treffpunkte. Die einen setzen sich gerne mit einer Fremdsprache auseinander. Andere freuen sich auf eine gemeinsame Wanderung oder auf den Lesezirkel. Was auch immer: Wichtig ist und bleibt, dass sich die Menschen treffen können. Die Teilhabe.

Damit sind wir wieder beim Anfang des Gesprächs, der sozialen, direkten, persönlichen Teilhabe: Die Angebote von Pro Senectute – auch die «Kultur», also Kurse und übrigen Freizeitaktivitäten – müssen im Sinn der ganzheitlichen Grundversorgung unbedingt aufrechterhalten bleiben. Und zwar live.

Genau. Wenn es Pro Senectute, unsere Angebote und soziale Teilhabe nur noch als App gäbe: das wäre für mich der Alptraum!

Links


– Dienstleistungen weiterführen und nötiger Schutz: Die wichtigsten Schutzmassnahmen von Pro Senectute Kanton St. Gallen, Link
– Schutzmassnahmen Pro Senectute Kanton St. Gallen, 30. Oktober 2020, PDF
– Medienmitteilung Pro Senectute, Pro Infirmis, Procap, «Kurse und Freizeitaktivitäten aufrechterhalten», 4. November 2020, PDF
– «Pandemie – Soziale Isolation schadet der Gesundheit von Senioren», NZZ, 30. Oktober 2020, PDF

Hinweis

So können Kurse mit Schutzmassnahmen funktionieren – Reportage
vom Pro-Senectute-Blockflötenensemble in St. Gallen


Kurse und Freizeitangebote weiter anzubieten, ist für Pro Senectute Kanton
St. Gallen wichtig; das aller anderen Dienstleistungen sowieso – und mittels Schutzmassnahmen auch möglich. Wollen Sie wissen, wie aktuelle Kurse mit Schutzmassnahmen funktionieren? Dann lesen Sie die Reportage eines
Pro-Senectute-Blockflötenkurses in St. Gallen hier.