«Die Solidarität zueinander macht den Menschen aus – auch wenn's manchmal anders aussieht»

Erika Mäder wuchs im Kanton Thurgau auf, lernte Büroangestellte, heiratete und hatte drei Kinder. Die Natur war ihr immer wichtig. Sie pflegte einen grossen Garten. Seit 2014, inzwischen wohnhaft im Rheintal, arbeitet sie als Haushilfe für Pro Senectute – zum Teil jahrelang für dieselben betagten Menschen. «Das führt zu sehr tiefen Freundschaften», sagt die Frau, die ihr Leben lang den Kontakt mit Menschen liebte. Corona, so Erika Mäder, sei für sie gerade im richtigen Moment gekommen, um herunterzufahren und wieder etwas mehr Ruhe zu finden. Was seitdem mit den Menschen passierte und wie Corona zeigte, was das Menschsein wirklich bedeutet, dazu hat die lebenserfahrene 70-Jährige viel zu sagen.

TEXT MICHAEL WALTHER, REDAKTOR NEWSLETTER PRO SENECTUTE KANTON ST. GALLEN

Ich bin 1950 geboren und wuchs in Matzingen zusammen mit einem Bruder auf. Ich hatte eine schöne und relativ freie Jugend. Damals haben die Eltern noch bestimmt, wie es nach der Schule weiterlaufen soll. Die Ansprüche waren nicht sehr hoch. Es hiess einfach, du musst eine Lehre machen. Die Frage, ein Studium zu absolvieren, stellte sich gar nicht. Also machte ich eine Bürolehre in einem Treuhandbüro in Frauenfeld – nicht zu vergleichen mit einer KV-Ausbildung heute.

Ich dachte immer, die Büroausbildung sei nichts für mich, hatte allerdings auch keine klaren Alternativen vor Augen. Es bestanden einfach keine anderen Möglichkeiten, und so geriet ich eher zufällig zu meinem Lebenslauf. Nicht, dass es mir nicht gefallen hätte. Ich war nicht unglücklich. Es war eine schöne Zeit. Aber wenn ich heute zurückdenke, hätte ich lieber mit Menschen gearbeitet.

Erstmal zu Hause bei den Kindern

An einer Arbeitsstelle in Uzwil lernte ich meinen Mann kennen. Seine Familie besass ein Geschäft – der Ort, wo ich ihm begegnete. 1969 heirateten wir. Nach der Heirat zogen wir nach St. Gallen. Wir lebten im Osten der Stadt und hatten drei Kinder.

Nach der Geburt der Kinder, blieb ich zu Hause. Ich fühlte mich wohl und wollte gar nicht zurück in den Beruf, sondern mit den Kindern zusammensein.




Als Erika Mäder aufwuchs, spielte der Berufswunsch der Heranwachsenden noch keine sehr grosse Rolle. Sie erlernte vielleicht nicht gerade ihren Traumberuf. Trotzdem kann die heute 70-Jährige auf ein reiches, vielfältiges Berufsleben zurückblicken. Gerade als Mitarbeiterin in der Haushilfe von Pro Senectute, erst recht aber in den letzten Monaten während des unfreiwilligen Corona-«Lockdowns» lernte die naturverbundene Frau, die stets die Menschen sehr gern hatte, über das Menschsein und menschliche Beziehungen noch einmal viel dazu. Bild: zVg.

Berufstätigkeit an der Olma als Auszeit

Ab 1978 begann ich wieder auswärts zu arbeiten. Auf ein Zeitungsinserat hin meldete ich mich bei einer Firma, die Cheminéeöfen herstellte und für die Olma jemanden suchte, die die Kunden betreute. Ich empfing und begrüsste die Besucher unserer Ausstellung und leitete sie an die Fachleute weiter.

Ich machte das zehn Jahre lang. Mein Mann nahm in dieser Zeit jeweils Ferien, und ich durfte an der Olma arbeiten. Es war wie eine Auszeit vom Familienalltag. Die Olma stand damals in ihrer Hochblüte. Sie kam vom Status her gleich nach dem Kinderfest. Dort zu arbeiten, war etwas Schönes. Ich stand nicht unter Druck. Ich hatte keine Auftragsprovision. Ich durfte mich nur einfach um die Besucherinnen und Besucher kümmern. Das machte ich sehr gerne – bis die Firma ihre Tätigkeit einstellte.

In meiner Jugend bestimmten die Eltern, wie es nach der Schule weiterging. So geriet ich eher zufällig zu meinem Lebenslauf.




Eine zweite Berufstätigkeit bestand darin, dass ich jeweils an den Samstagen eine Frau im Rollstuhl betreute. Sie war eine ältere Person. Auch auf diese Stelle war ich durch ein Inserat gestossen.

Langjährige Bankangestellte

1984 durfte ich auf der Bank in St. Gallen, bei der mein Mann arbeitete, als Aushilfe einsteigen. Diese Tätigkeit entwickelte sich über Jahre hinweg, und mit der Zeit arbeitete ich als Kundenberaterin. Der Einstieg erfolgte langsam. Ich konnte mich sehr gut einarbeiten und übte diese Aufgabe sehr gerne aus. Vor allem gefiel mir die Zusammenarbeit mit den Menschen.

Die Arbeitsstelle bedeutete für mich die Möglichkeit zu einer Veränderung. Die Kinder wurden ja langsam erwachsen, und als sie grösser waren, wollte ich nicht immer tagsüber warten, bis sie wieder nach Hause kamen, um sie dann zu bedienen – sondern selber etwas unternehmen.

Blick ins Innere des Körpers

Ich machte während dieser Zeit auch eine Ausbildung als Bachblütentherapeutin und erlangte das Diplom, aber ich arbeitete nicht auf dem Gebiet. Dennoch half mir die Sache sehr viel. Ich konnte dadurch in den Körper hineinschauen. Ich interessierte mich sehr für alles, was mit Krankheiten zu tun hatte. Wir hatten einen Sohn, der lange Zeit krank war. Dies war der Grund, dass ich auf das Thema stiess und vermehrt körperbezogen arbeiten wollte.

Ein grüner Faden im Leben

Ich fühlte mich immer sehr naturverbunden. Die ganze Zeit, als wir in St. Gallen lebten, hatten wir einen sehr schönen Schrebergarten. Ich gärtnerte dort biologisch. Es war zur Zeit des Einstiegs ins Biozeitalter, in den 1980er Jahren. Die Älteren lachten damals noch über die grüne Bewegung. Ich nicht. Es ist wie ein grüner Faden, der sich immer weiterzieht, auch wenn die Naturverbundenheit mitunter belächelt wird. Aber die Frage, wie man die Natur erhalten kann, die Freude, die sie bereitet, und was man sieht, wenn man draussen unterwegs ist, dies zog sich in meinem Leben immer weiter – und es war etwas, was ich ständig auch mit meinen Kindern und später den Enkelkindern praktizierte.

Ich fühlte mich immer sehr naturverbunden. Die Älteren lächelten damals noch über die grüne Bewegung. Ich nicht.




Es mag sein, dass die Bankenwelt einerseits und die Natur oder meine Beschäftigung mit Bachblüten etwas stark nach zwei Welten aussieht und sich etwas widersprüchlich anhört. Doch ich fühlte mich in beiden Bereichen sehr wohl. Das eine war wie ein Ausgleich zum anderen.

Intensive Sommerzeiten

1999 gab es wieder eine Veränderung in unserem Leben. Wir bauten in der Nähe von St. Gallen ein Haus. Dort bewirtschaftete ich meinen eigenen Garten. Ich zog von A bis Z alles selber, steckte die Samen, bis am Schluss die Bohnen, Kohlrabi, Blumen oder was auch immer gediehen waren. Wir ernteten sehr viel Gemüse und viele Beeren.

Gerade im Sommer arbeitete ich in jener Zeit mit vollen Kräften. Normalerweise war ich auf der Bank 40 Prozent angestellt. Aber in den Sommermonaten übernahm ich immer während sechs bis acht Wochen zu hundert Prozent eine Ferienablösung – dann also, wenn auch im Garten am meisten Arbeit anfiel. Vom Giessen frühmorgens über die Aufgaben bei der Bank und bis zum Einmachen – ich arbeitete dann jeweils so lange, wie der Tag war. Aber das war keine Belastung für mich, sondern eine Freude, weil man ja dann im Winter die eigenen Erzeugnisse aus dem Garten geniessen konnte.

Zwei Autos – das stimmt nicht mehr

Im Jahr 2010, als die Kinder bereits länger nicht mehr daheim waren, mussten wir irgendwann einfach sagen, das kann es nicht sein, dass wir das ganze grosse Haus für uns allein haben. Ich kam mit der Zeit auch auf den «Trip», dass es für mich nicht mehr stimmte, jedes Mal ins Auto zu steigen, wenn man irgendwo hinwollte. Mit dem Velo zu fahren, war wegen der Strassen in der Umgebung relativ gefährlich. Und zwei Autos zu besitzen, passte für mich von der Umweltbelastung her einfach nicht mehr.

Dazu kam, dass mein Mann im Garten von einer Biene so unglücklich gestochen worden war, dass er einen Kollaps erlitt und daran fast verstorben wäre. Nach diesem Erlebnis fühlte er sich im Garten nicht mehr wohl, und daher lag nun alle Arbeit bei mir – bis ich irgendwann fand, das Ganze allein zu stemmen, mag ich einfach nicht mehr.

Fuss fassen im Rheintal, kein Problem

So gelangten wir schliesslich zum Entscheid, das Haus zu verkaufen, und mussten danach etwas Neues haben. Wir zogen eine Möglichkeit in Erwägung, wo wir nicht immer ins Auto steigen mussten, wo wir es einfacher hatten und mit dem Velo und dem öffentlichen Verkehr zum Haus raus konnten. Wir wurden in Altstätten fündig.

Im Sommer, wenn im Garten am meisten Arbeit anfiel, arbeitete ich auch auf der Bank hundert Prozent, weil ich eine Ferienablösung machte. Aber das war eine Freude für mich, weil man im Winter alle Produkte aus dem eigenen Garten geniessen konnte.






Ich hatte keine Mühe, mich in der neuen Umgebung und mit neuen Nachbarn einzuleben. Mit unbekannten Menschen in Kontakt zu treten, hatte ich noch nie Schwierigkeiten gehabt. Dennoch stellte sich nach drei Jahren das Gefühl ein, dass ich gerne wieder etwas Berufliches machen würde.

Tatsächlich schon sechs Jahre die gleiche Frau betreut

Ich entdeckte ein Zeitungsinserat von Pro Senectute, in dem Mitarbeitende in der Haushilfe von Betagten gesucht wurden. Ich besuchte den Informationsvortrag und hatte den Eindruck, dass das etwas sei, was mir Freude bereiten würde. Den Umfang der Einsätze konnte man selbst bestimmen. Ich stellte mich für einen Tag in der Woche zur Verfügung.

Seitdem übernehme ich bei Pro Senectute immerzu Einsätze. Viereinhalb Jahre betreute ich einen Herrn, der inzwischen ins Altersheim musste. Und ich habe noch eine Frau, die ich bereits seit sechs Jahre betreue.

Zwischendurch unterstützte ich noch zwei, drei andere Personen, aber diese Einsätze währten jeweils nur kurz und dauerten auch mal nur einen Monat. Bei einer weiteren Kundin arbeite ich jeweils im Frühjahr oder im Herbst als Aushilfe für eine Kollegin, die dann Ferien bezieht. Das ist natürlich auch schön, wenn man mich immer wieder will!

Da entstehen tiefe Freundschaften

Über die Jahre hinweg hatte ich also keine grossen Personenwechsel. Man bleibt dadurch lange und intensiv mit einem Menschen zusammen. So kann man mit ihm auch eine intensive Beziehung aufbauen. Das ist sehr schön. Man führt Gespräche. Die Leute haben ein Strahlen auf dem Gesicht und sind einem dankbar, wenn man vorbeikommt. Es kommt vor, dass ich mitunter einfach einen Schlüssel erhalte, um selbständig in die Wohnungen hineinzugehen, was natürlich ein grosses Zeichen des Vertrauens darstellt.

Bei der Arbeit geht es primär um die Reinigung. Man hält die Wohnung und den Haushalt in Schuss. Als der Herr, der inzwischen leider ins Altersheim musste, nicht mehr selber schreiben konnte, erledigte ich auch solche Arbeiten – etwa das Ausfüllen von Einzahlungsscheinen.

Durch die lange Beziehung lernt man in der Haushilfe die Leute sehr gut kennen – was sie gern haben, was sie möchten und was sie in ihrem Leben gemacht haben. Dadurch entstehen die ganz schönen Kontakte.






In dem Sinn entwickeln sich die Aufträge immer wieder, und man muss flexibel sein – es ist sowieso gut, wenn man das kann. Beim Herrn, den ich lange betreute, lebte erst noch seine Frau. Ich sah sie zwei, drei Mal. Als sie allzu kurz darauf verstarb, merkte ich, dass er wahnsinnig froh war, wenn man ihm einfach alles selbständig erledigte. Er sagte auch: «Mach einfach.» Entsprechend eigenständig war ich im Haus zugange. So geht man immer aus der Situation heraus darauf ein, was sie Leute brauchen.

Bei Sorgen Ansprechperson sein

Zwischen mir und meinen Kunden liegen zehn oder zwanzig Lebensjahre. Durch die lange Beziehung lernt man die Leute sehr gut kennen – was sie gern haben, was sie möchten und was sie in ihrem Leben gemacht haben, und dadurch entstehen die ganz schönen Kontakte.

Oft ist man Ansprechperson für Sorgen. Mal mehr, mal weniger. Bei der Frau, bei der ich immer noch bin, ist dies weniger der Fall. Ihre Tochter arbeitet ebenfalls in dieser Richtung. Deshalb ist sie in der Familie sehr gut eingebettet. Bei dem Herrn war es eher der Fall. Als es ihm nicht mehr so gutging, fragte er mich häufig: «Was mache ich auch den ganzen Tag, wenn ich dann im Altersheim bin?» Dann setzte man sich halt hin und redete miteinander. Er hat eben niemanden, der sehr in der Nähe und regelmässig bei ihm war. Und darum ereigneten sich solche Gespräche. Es kommt immer ein wenig darauf an, wie jemand eingebettet ist – privat und in der Verwandtschaft.

Corona, was nun?

Und dann erhielt ich eines Tages die Information, ich könne wegen Corona nicht mehr zu den Einsätzen gehen. Sie hätten eine Sitzung gehabt. Die über 65-Jährigen könnten im Moment die Einsätze nicht mehr übernehmen, weil sie gefährdet seien. Und wir mussten bis auf weiteres daheimbleiben.

Aber es war ja nicht nur dort so, dass wir im Haus bleiben sollten. Ich ging zunächst auch selber nicht mehr einkaufen. Ich mache ausserdem in zwei Linedance-Clubs mit. Damit war ebenfalls bis auf weiteres Schluss.

Als Covid-19 kam, musste ich wegen der äusseren Umstände also plötzlich herunterfahren – und das tat wider Erwarten sehr gut. Per Zufall kam für mich Corona eigentlich im richtigen Moment. Ich merkte, die Ruhe, etwas anderes zu machen, kommt mir eigentlich entgegen. Ich begann mal die Wohnung richtig zu putzen – wie andere auch... Ich las mehr – was ich sonst sehr gern und viel tue. Auch zog ich meine alte Lismete hervor und stellte sie fertig.

Seit wir in Altstätten wohnen, habe ich keinen eigenen Garten mehr. Auch solche Dinge, etwa den Bezug zur Natur, förderte die Coronazeit wieder vermehrt. Bärlauchknöpfchen – dies war für mich seit jeher eine Frühlingsarbeit. Jetzt gehen die Holderblüten wieder auf, und da muss ich dann eben die Sträucher an ihren Standorten aufsuchen.

Bestimmt haben wir uns vermisst!

Natürlich habe ich während des «Lockdowns» die Frau, die ich betreue, vermisst! Und wie! Jede Woche fehlte sie mir! Ganz natürlich! Auch sie sagte immer wieder, ach, wie froh sie wäre, wenn ich wiederkommen könnte und wieder da wäre. Ihre Tochter half ihr während der Zeit, die Dinge zu erledigen, die ich sonst immer tue. Ich rief sie wöchentlich an. Trotzdem vermissten wir uns gegenseitig!

Mir kam Covid-19 eher entgegen. Ich konnte ein wenig herunterfahren. Ich begann mal die Wohnung richtig zu putzen, wie andere auch. Ich las wieder mehr. Und ich machte meine Lismete fertig.






Nach der erzwungenen Pause kehrte auch die Energie wieder zurück. Am Montag, 11. Mai, ging ich erstmals wieder zu ihr arbeiten – an einem der allerersten Tage, an dem dies überhaupt möglich war. Und: Wiedersehen macht Freude. Genau! Wir hatten uns einen Haufen zu erzählen – was wir so gemacht hatten. Erzählten uns von der neu entdeckten Ruhe...

Bei meiner Klientin lief es – fast eher noch als bei mir – nahezu weiter wie zuvor. Sie lebte während der «Lockdown»-Monate nicht viel anders – ausser, dass sie nicht einkaufen gehen konnte. Und darüber freute sie sich nun, dass sie wieder hinaus und etwas unter die Leute durfte. Sie ist schon sehr betagt, und es war während des «Lockdowns» wirklich nötig, dass sie darauf verzichtete.

Erstaunlich, diese Wandlung bei den Menschen

Mein Mann und ich hatten entschieden, dass wir dennoch einkaufen gingen – dies einfach zu Tageszeiten, an denen nicht so viele Leute unterwegs waren; und immer nur kurz.

Wir besuchten schon eh und je immer Marktstände und «Hoflädeli». Aber jetzt war auffällig, dass man da fast nicht mehr hingehen konnte, weil der grösste Trubel herrschte. Es war geradezu verrückt – und nicht mehr lustig. Da ging ich lieber über Mittag in den Coop. Dort hatte ich mehr Ruhe. Wenn wir üblicherweise unseren Hofladen aufsuchten, waren da höchstens drei, vier Personen. Aber nun standen immer deren zwanzig draussen herum. Da musste ich schon sagen: Hallo?! Es ist schon erstaunlich, welche Wandlung da in den Leuten ablief.

Shopping – ganz ohne Vergnügen

Es gab freilich noch mehr Veränderungen infolge Corona. Man geht, nach wie vor, einfach nicht mehr gerne Einkaufen. Es herrscht eine dermassen komische Atmosphäre und Ausstrahlung. Man betritt ein Geschäft, holt sich das Nötigste – und ab, wieder raus. Es ist gar kein Shoppingvergnügen mehr.

Wenn ich wüsste, wie lange die Ruhe, der Run auf die Hofläden oder die Einkaufsabstinenz anhalten, wäre ich Hellseherin.




Ich habe das Gefühl, dass viele Leute fast an ihre Grenze geraten – vom Verständnis her, all des Vielen und Verschiedenen, was man epidemiologisch hört. Man kann die vielen Informationen kaum noch verarbeiten. Im Moment war ja alles vielleicht fast noch lustig. Aber wenn man dann merkt, gerade den Kleingeschäften geht es jetzt ans Eingemachte, dann möchte man schon, dass alles wieder normal wird und die Leute sich wieder erholen können. Deshalb ist es im Augenblick fast ein wenig wie auf einem Pulverfass.

Der grosse Wunsch nach Normalität

Ob die Ruhe, der Run auf die Hofläden oder die Einkaufsabstinenz anhalten – das ist eine gute Frage. Ich wäre Hellseherin, wenn ich das wüsste. Alle hoffen ja nur eins: dass der «Lockdown» nicht noch einmal kommt.

Aber eins spüre ich ganz klar: Die Leute möchten wieder in die Normalität – mir wäre zwar eine neue Normalität lieber. Sie wollen wieder wie gewohnt arbeiten. Wenn möglich ohne Mundschutz. Ohne Angst. Denn die Menschen haben ja doch teilweise zuviel Angst. Nicht Respekt vor dem Virus. Sondern Angst!

Unangenehm – der Bogen, den alle umeinander herum machen

Man spürt es, wie die Leute einen meiden. Nicht nur die älteren Menschen, sondern generell. Ich habe die Leute gern. Aber jetzt meiden sie sich. Wenn ich rausgehe, bin ich zu allen freundlich. Aber jetzt habe ich das Gefühl, die Leute gehen weg, wenn ich daherkomme. Vielleicht tun sie das nicht einmal bewusst. Aber sie machen einen Bogen um mich herum. Wir haben uns dies angewöhnt. Und das ist ein bisschen traurig.

Und deshalb möchten die Menschen wieder in die Normalität zurück. Sie wünschen sich, dass man sich wieder begegnen kann. Wieder einen Schwatz halten und sich in die Augen blicken kann. Nicht immer Angst haben muss, es passiert etwas.

Erfindungsreichtum wäre ohne «Lockdown» nicht möglich gewesen

Auf der anderen Seite hatte ich ganz stark das Gefühl, dass von überall auch die Frage kam, wie es einem geht: Geht es dir gut? Brauchst du Hilfe? Wenn man die Hilfsangebote in der Zeitung las, oder den Erfindungsreichtum sah, der an den Tag gelegt wurde, damit etwa der Wochenmarkt wieder stattfinden konnte – wie viele Dinge da aufgegleist wurden – , dann muss man sagen, vieles davon hätte ohne «Lockdown» nicht stattgefunden.

Die Jungen haben den Älteren gegenüber sehr viel Hilfe gezeigt. Dies war ebenfalls sehr positiv. Sie kamen – im übertragenen Sinn – wirklich wieder näher an die ältere Generation heran und entwickelten ihnen gegenüber eine andere Emotion. Vorher hatten sie sich eher distanziert verhalten. So kam es zu beiden Effekten – einerseits dem, dass die Leute einen Bogen um einander herum machten. Anderseits gingen sie vermehrt aufeinander zu.

Das destruktive Menschenbild stimmt nicht

Corona hat deshalb auch gezeigt, dass das rein destruktive Menschenbild vom gierigen, egoistischen Menschen, manchmal miterzeugt durch gewisse zeitgenössische Politiker, nicht stimmt. Die Hilfsbereitschaft unter den Menschen hat dieses Menschenbild während Corona teilweise auch wiedergutgemacht.

Die Jungen haben den Älteren gegenüber sehr viel Hilfe gezeigt. Sie kamen wieder näher an die ältere Generation heran. Es entwickelte sich wirklich eine andere Emotion.





Dennoch – die Menschen möchten wieder normale Beziehungen. Wenn ich unterwegs jemanden treffe, den ich kenne, möchte ich einfach gern mit ihm einen Kaffee trinken können. Ich möchte mit Kollegen wieder an einen Tisch sitzen und bei einem Bier anstossen. Das fehlt mir. Und dies bedeutet: Es fehlt einem der Mensch. Das Bier kann ich auch daheim haben. Aber nicht den Menschen – und den Austausch mit ihm.

Und wie der Austausch fehlt!

Oder wenn ich tanzen gehe oder den Turnverein besuche – dann nicht nur dies. Die Menschen gehen nach dem Turnen und Tanzen jeweils noch etwas trinken. Sie tauschen sich aus. Und das fehlt jetzt.

Man hält das schon einen Monat aus. Aber dann möchte man wieder in das normale Leben zurück. Man beginnt dann fast ein wenig zu täubeln: Ich brauche das jetzt! Ich will es wieder!

Denn was den Menschen ausmacht, das ist doch die Solidarität zueinander. Auch wenn es manchmal anders aussieht. Das empfinde ich einfach so. Achte dich selbst. Wenn du willst, dass andere dich achten.