«Die Pandemie ist eine Vorübung für jenes Virus, das früher oder später alle trifft» – Gespräch zweier «Risikopatienten»

Der Newsletter von Pro Senectute Kanton St. Gallen präsentiert Ihnen jedes Mal eine Gastkolumne eines prominenten Autors oder einer prominenten Autorin. Diesmal beides zugleich: Die Autorin und Kulturschaffende Helga S. Giger und der Soziologe Peter Gross veröffentlichten 2019 den Mailroman «Ich muss Ihnen schreiben». Für unseren Newsletter schrieben sie ihn fort – in derjenigen Aktualität, der sich in den vergangenen Monaten niemand entziehen konnte.

VON HELGA S. GIGER UND PETER GROSS

Er:
Eben lese ich, dass der Coronavirus keinen Unterschied zwischen Mann und Frau macht, also nicht Gender-spezifisch vorgeht.

Sie:     
Diese Indifferenz ist eigentlich tröstlich für eine an Gleichheit orientierte Gesellschaft. Wenn schon Unglück, dann soll es alle treffen. Ich meine allerdings gelesen zu haben, dass Männer mehr betroffen sind als Frauen. Wenn schon Leid, dann soll es alle treffen. Er:    
Wie auch immer, es wird vermutlich unterschiedlich kolportiert. Auf jeden Fall ist eine gewisse Befriedigung mit im Spiel, wenn Staatsmänner und  Schönheitsköniginnen das gleiche Leid erleben, in der gleichen Gefahr schweben wie Arbeitslose und  Manager. Darüber hinaus  hat dieser Virus, wenn er unterschiedslos über die Gesellschaften hinwegfegt, eine lehrhafte Seite. Wer mit Seuchen konfrontiert wird, erlebt die Nachtseite der Existenz, die offenbare Machtlosigkeit aller medizinisch-therapeutischen Aufgebote und das Versagen, dieses unheimlichen Gastes Herr zu werden oder ihn zu zähmen.




Er, der Soziologe Peter Gross, und sie, die Kulturschaffende Helga S. Giger, veröffentlichten 2019 ihren gemeinsamen Briefroman «Ich muss Ihnen schreiben». Bild: zVg.

Sie:
Nun, es betrifft ja immer noch den kleineren Teil der Bevölkerung und jede, jeder hat die Möglichkeit, durch hygienische Massnahmen und eine gewissen Abschottung sich bestmöglich einer Ansteckung zu entziehen. Da ich mich fast penibel an die Vorgaben des Bundesrats gehalten habe, hege ich die berechtigte Hoffnung, dass ich mich nicht anstecken werde! Den Infekt Alter und Tod trägt jede Gesellschaft und jede Person in sich. Das ist der Unterschied zu Corona.
Er:
Merkst Du, dass dieser epidemische Gast eine bislang nicht gebührend beachtete Lehre vorträgt, eine Lehre die auch unterschiedslos alle trifft? Die gegenwärtige Pandemie lässt sich nämlich als Vorübung für jene globale menschheitsumfassende Pandemie deuten, die alle trifft und der niemand entkommen kann, nämlich Alter und Tod. Jede Gesellschaft trägt diesen Infekt in sich und jede Person – das ist der Unterschied zum Coronavirus – erliegt diesem Infekt früher oder später.

Sie:
Ein ziemlich harter Vergleich, der uns Alten wohl schneller ins Bewusstsein rückt als all den jüngeren Betroffenen, die noch ein ganzes Leben vor sich haben und denen solche finalen Gedanken noch weit weg liegen. Dieses perfide Covid-19 trifft natürlich auch mehr die Alten, insofern hast Du sicher Recht.

Er:
Ich sehe es deutlich als Gleichnis, was lässt sich daraus lernen? Nicht nur Demut und Bescheidenheit. Oder Glauben und Vertrauen. Sondern eine Lebenspraxis, die gelassener allem entgegenschaut, was uns noch heimsuchen könnte. Das Getöse der Welt wurde die letzten Wochen tatsächlich ein wenig befriedet. Eine seltsame Stille breitete sich aus.
Sie:
Du bist ein Moralist, doch es stimmt: Gleichnisse sind auch mir immer Ansporn, über etwas nachzudenken. Ich muss Dir jedoch gestehen, dass ich diese Zeit des Rückzugs auch sehr genossen habe. Das Getöse der Welt wurde die letzten Wochen tatsächlich ein wenig befriedet. Der Lärm nahm deutlich ab, und eine seltsame Stille breitete sich aus. Bei meinem täglichen Walk-Spaziergang sah ich noch nie so viele junge Leute, die auch am Werktag joggten, spazierengingen oder Velo fuhren. Alles natürlich in gebührendem Abstand und mit äusserst freundlicher Miene.

Er:
Ich bin froh, dass inzwischen bereits eine kleine Lockerung aller Einschränkungen unsrer Lebensweise eingetreten ist, denn ich sehe nun mit Schrecken die Kehrseite der von Dir so genossenen Ruhe: die steigenden Arbeitslosenzahlen, die wirtschaftlichen Minuszahlen, die psychologischen Konsequenzen dieser einige Wochen andauernden Quarantäne.

Sie:
Das beschäftigt mich ja auch. Ganz fatal finde ich die momentan stattfindenden Demonstrationen von wütenden Verschwörungsfanatikern, die für einmal nicht im Netz ihr Unwesen treiben, sondern unbescholtene Bürger mit ihren konfusen Überzeugungen anstecken. In Deutschland springen bereits Fanatiker jeglicher Couleur auf diesen Zug auf.
Weil die wenigsten Leute einen Coronatoten kennen, tritt schnell die Überzeugung auf, es sei übertrieben reagiert worden.
Er:
Das stimmt. Besonders seltsam, warum Bill Gates als der grosse Satanist bezeichnet wird, der der ganzen Menschheit Mikrochips einimpfen will, damit alle auf Schritt und Tritt verfolgt werden können. Dass die Stimmung so umgeschlagen hat, ist vielleicht nicht so erstaunlich, wie es aussieht. Die wenigsten Leute kennen einen Coronatoten, weil es bekanntlich nur einen kleinen Teil der Bevölkerung getroffen hat. Da tritt ganz schnell die Überzeugung auf, dass viel zu übertrieben reagiert worden sei. Dabei wird völlig vergessen, dass das Kleinhalten der Fallzahlen vermutlich nur dank den strikten Massnahmen des Bundesrates gelang.

Sie:
Die nun folgenden Nachwirkungen sind kaum abzuschätzen, und ich bin sehr gespannt, wie man in einigen Jahren diesen «totalen Stromausfall» beurteilen wird. Zumindest hat diese Zeit uns einige neue Wörter beschert. Zum Beispiel: «coronisieren», etwas an die Bedingungen der Coronazeit anpassen; oder: «Covidiot», also eine Person, die sich während der Coronaepidemie unangemessen verhält und so weiter. So stand es jedenfalls im «St.Galler Tagblatt» vom 16. Mai 2020 im betreffenden «Coronalexikon».

Er:
Wünschen wir uns möglichst wenige Covidoten – auf dass das Coronisieren auch bald mal wieder ein Ende hat.

Sie:
Beim Walken...

Er:
… und Moralisieren.


Helga S. Giger wurde 1939 in Frankfurt am Main in den Kriegswirren des Zweiten Weltkriegs geboren. Sie besuchte in Heidelberg die Schulen, studierte ebendort und in Karlsruhe. 1961 zog sie in die Schweiz. Sie war in der Textilbranche tätig, zuletzt als Geschäftsführerin. Seit vielen Jahren schreibt sie Prosa, Gedichte, Lieder, Kabarettsketche und führte ausserdem zwanzig Jahre die Kulturinstitution «Nachtcafé» in Flawil.

Peter Gross (1941) studierte Soziologie, Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Zürich und Bern. 1979 bis 1989 war er Professor für Soziologie und Sozialstruktur im internationalen Vergleich an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Von 1989 bis zu seiner Emeritierung 2006 lehrte er als Ordinarius für Soziologie an der Universität St. Gallen. Von 1996 bis 1998 war er Dekan der Volkswirtschaftlichen Abteilung. 1972 bis 1980 sass er ausserdem für die SP im Grossen Rat des Kantons Thurgau. Peter Gross ist Autor zahlreicher Bücher – sein bekanntestes «Die Multioptionsgesellschaft», erschienen 2005 im Suhrkamp-Verlag nach seiner Begriffsprägung –, darunter auch zahlreiche Titel im Zusammenhang mit Altersfragen: «Glücksfall Alter – Alte Menschen sind gefährlich, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben», mit Karin Fagetti, «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber Wozu?» (beide 2013) sowie «Ich muss sterben» (2015), erschienen alle drei bei Herder.

Von Helga S. Giger und Peter Gross erschien 2019 gemeinsam «Ich muss Ihnen schreiben» (Orte-Verlag). Im fiktiven Mailroman mit autobiografischem Hintergrund schreiben die beiden AutorInnen über Liebe am Lebensabend.

Links


www.petergross.ch

Informationen zum aktuellen Buch von Helga S. Giger und Peter Gross finden Sie hier.