«Ich brauche viel Stille»

Elisabeth Sailer-Weiss wurde nach der Scheidung ihrer Eltern vorerst in die Obhut ihrer Tante gegeben. Als junge Frau plante sie, ein Leben in Amerika aufzubauen. Mit ihrem Mann führte sie eine glückliche Ehe. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen widmete sie sich den Kindern. Durch Krankheit musste sie ihren Mann früh loslassen. Heute führt sie ein aktives und ausgeglichenes Leben – als Atemtherapeutin, Kursleiterin und Grossmutter. Aus dem Leben von Elisabeth Sailer-Weiss.​​​​​

Von Albert Baumgartner

Meine Kindheit war nicht einfach. Als ich vier Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden. Ich kam vorerst in die Familie meiner lieben Tante, wo ich mit meinen Cousins unbeschwert Kind sein durfte. Mein Bruder wurde während dieser Zeit von der Grossmutter betreut. Weitere Herausforderungen seien hier nur angedeutet: Mein Vater und meine Mutter waren insgesamt dreimal verheiratet. Ich habe einen Bruder und zwei Halbbrüder, mit denen ich eine gute Beziehung pflege.

Menschen gaben Halt

Mein Vater war einerseits ein Choleriker, anderseits ein herzensguter Vater, der mich über alles liebte. Ich selber war allen Schwierigkeiten zum Trotz ein lebensfrohes Kind. Da waren immer auch Menschen wie zum Beispiel meine Tante, die mich liebten und so nahmen, wie ich war.

Dom war ein Lichtblick

In den Familien wurde viel gesungen. Dies gab Halt und war Seelennahrung für mein kindliches Gemüt. Gerne ging ich in den Dom. Dort fühlte ich mich aufgehoben und getragen. Die grosse Kuppel und die goldene Monstranz vermittelten mir einen besonderen Lichtblick, schenkten Kraft und Zuversicht. Dies waren vermutlich meine ersten spirituellen Erfahrungen. Abends betete ich oft, dass es keinen Streit unter den Eltern gebe.

Verliebt in Paris: in die Kunst

Bis zu meinem 18. Lebensjahr besuchte ich die Mädchenschule „Talhof“ in St. Gallen. Danach reiste ich nach Paris als Au-pair. Paris mit seiner Weite und vor allem auch mit der Kunst tat es mir an. Ich liebte die Bilder der Impressionisten. Insbesondere Claude Monet mit den sanften und tiefgründigen Farben faszinierte mich.


Ihr Start war nicht einfach. Das Leben geprägt von wundervollen Begebenheiten. Sowie schweren Momenten. Vielleicht ein typisches Leben? Heute strahlt Elisabeth Sailer-Weiss tiefe Ruhe. Bild: pssg., zVg.

Amerikanische Pläne

Noch hatte ich nicht genug von der weiten Welt und zog nach Connecticut, dem drittkleinsten Staat der USA im Nordosten am Atlantik. Auch hier arbeitete ich als Au-pair. Später zog ich für ein weiteres Jahr nach Manhattan, New York. Hier fand ich über die Au-pair-Familie einen direkten Draht zur modernen Kunst. Auch besuchte ich Kurse in Pädagogik und Psychologie. Eigentlich plante ich, in den USA zu bleiben und Heilpädagogik zu studieren. Doch mein Vater erlitt im Alter von 50 Jahren einen Herzinfarkt, und so kehrte ich in die Schweiz zurück.

Erste Berufung als Kindergärtnerin

In der OPOS, der Augenklinik von Dr. Bangerter in St. Gallen, arbeitete ich fortan im Kindergarten und leitete ihn acht Jahre lang. Ich entdeckte mein gutes Sensorium für Kinder. Die Arbeit machte mir viel Freude.

Hochzeitsreise und Weltgeschichte

Eines Tages war ich zu einem Liederabend geladen. An der Nachfeier im kleinen Kreis begegnete mir Alexander Sailer. Ich war angetan von seiner Herzenswärme, seinem Humor, seinem sozialen Engagement und seinem breiten Wissen über Musik, Kunst und Literatur. 1968 heirateten wir in Wil. Die Hochzeitsreise führte uns nach Prag, wo wir am zweiten Tag mitten in den Einmarsch der Russen gerieten.

Bewusster Entscheid für die Kinder

Mein Mann – vorher Lehrer und nun Sozialarbeiter – war beruflich äusserst engagiert. Es war die Zeit der akuten Drogenprobleme. Als Bezirkssekretär der Pro Juventute St. Gallen vermittelte er zwischen den Behörden und den rebellierenden Jugendlichen. Ich entschied mich, mich ganz der Familie, vor allem den beiden Kindern Andrea und Martin, zu widmen. Dies besonders vor dem Hintergrund meiner turbulenten Kindheit. Später engagierte ich mich zusammen mit meinem Mann in der Elternschule und in verschiedenen sozialen Institutionen.

Aus dem eigenen Leben lernen

Um meine Kindheit aufzuarbeiten, gönnte ich mir eine Gesprächstherapie und besuchte eine Selbsterfahrungsgruppe. Eine für mich unvergessliche Erfahrung war ein Workshop mit der berühmten Ärztin Elisabeth Kübler-Ross, einer Pionierin in der Sterbebegleitung. Damals war es noch üblich, dass man seine Wut auf einer Matratze ausleben durfte. Das tat mir einfach gut, die aufgestaute Wut so frei rauszulassen.

Weitere Berufung als Therapeutin

Allmählich erkannte ich, dass die Heilung von seelischen Wunden auch auf der körperlichen Ebene geschehen muss. Ich entdeckte Feldenkrais, eine körperzentrierte Methode, und dann vor allem die Heilungskraft des Atems. Ich entschied mich für die Ausbildung zur Atemtherapeutin nach Ilse Middendorf. War früher noch der Wunsch da, mich in Sterbebegleitung ausbilden zu lassen, spürte ich jetzt ganz klar: Es geht ums Leben, um den Atem des Lebens. Nun lebte ich meine Berufung, arbeitete mit Einzelpersonen und Gruppen als Atemtherapeutin.

Plötzliche Erkrankung des Gatten

Im Frühling 2011 fuhren mein Mann und ich für ein paar Tage nach Meran in ein schönes Hotel. Schon am ersten Morgen entdeckte ich, dass mein Mann ganz gelb war. Im Spital in Meran wurde der Verdacht geäussert, es könnte sich um Bauchspeicheldrüsenkrebs handeln.

Den Beruf aufgeben: auf keinen Fall

Mein Mann wurde mit der Ambulanz ins Kantonsspital St. Gallen überführt, wo der Verdacht zur Gewissheit wurde: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er wurde erfolgreich operiert und mit Chemotherapie behandelt. Es sah gut aus – offenbar keine Metastasen. Schon feierten wir das erste Jahr nach der Operation, das nur etwa dreissig Prozent der Patientinnen und Patienten mit dieser Krebsart überleben. Doch kurz danach wurde mein Mann von Fieberschüben geschüttelt. Der Befund zeigte, dass sein Körper voller Metastasen war. Als ich ihn fragte, ob ich meinen Beruf als Atemtherapeutin aufgeben soll, um mich ganz seiner Betreuung zu widmen, wurde er fast wütend und meinte, ich solle meine Tätigkeit auf keinen Fall niederlegen.

Den Ehemann freigeben

In jener Zeit wusste ich zutiefst im Innern, dass ich meinen Mann nicht festhalten wollte. In der Sterbestunde sang ich Alexander das Taizélied «Ubi caritas et amor, Deus ibi est» – «wo Wohltätigkeit und Liebe sind, da ist Gott». In dieser Liebe und Dankbarkeit konnte ich ihn freigeben.

Atemtherapeutin, Kursleiterin, Grossmutter

Heute, mit 78 Jahren, ist mein Leben noch sehr vom Schaffen geprägt, vor allem von der Arbeit als Atemtherapeutin. Meine Erfahrungen gebe ich auch in Weiterbildungen für Atemtherapeutinnen weiter. Aber auch das Hüten der Enkelkinder bereitet mir viel Freude.

Kürzlich verfasste ich Texte zu Bildern des Dickener Malers Karl Uelliger. Dies für ein Bilderbuch mit dem Titel «Goldi, Wolkenpicker und Schlarpi», das im Appenzeller Verlag erschien.

Tragfähiges Sozialnetz

Ich bin eingebunden in ein grosses, tragfähiges soziales Netz. Regelmässig begebe ich mich ins Theater, ins Kino, in einen Singkreis oder treffe mich zum Austausch mit Freunden und Kolleginnen.

Ausgleich in der Ruhe

Zum Ausgleich all meiner Aktivitäten brauche ich viel Stille. Den Raum der Stille pflege ich unter anderem in einer Meditationsgruppe mit spirituellen Impulsen aus verschiedenen Denkrichtungen. Hier habe ich eine weltoffene, gänzlich undogmatische Form von Meditation gefunden.

Elisabeth Sailer-Weiss

«Elisabeth Sailer-Weiss wohnt in einer Loftwohnung mit grosszügigen, weiten Räumen. Ursprünglich war das Gebäude eine Sockenfabrik. Neben stilvollen alten Möbeln hängen moderne Bilder an den Wänden, unter anderem vom bekannten Maler Karl Uelliger. Elisabeth Sailer-Weiss strahlt für mich eine tiefe Ruhe und Gelassenheit aus. In ihrer Gegenwart ist mir wohl, der Atem fliesst frei.» Dies schreibt Albert Baumgartner. Der Pro-Senectute-Mitarbeiter und Coach für betreuende Angehörige hat diesen Text für die Agenda von Pro Senectute Stadt St. Gallen verfasst. Im Newsletter von Pro Senectute Kanton St. Gallen lesen Sie jedes Mal einen Text «Aus dem Leben von» einem Senior oder einer Seniorin. mw.