Mit den belastenden Gedanken und Gefühlen beim Betreuen nicht allein sein

Pro Senecute St.Gallen ist die erste, bisher einzige Sozialorganisation in der Schweiz mit umfassender fachlicher Unterstützung für Personen, die Angehörige betreuen. Ein umfangreiches Pilotprojekt wurde jetzt ausgewertet. Die Resultate zeigen einen grossen Erfolg auf.

Von Michael Walther, Redaktor Newsletter Pro Senectute Kanton St. Gallen

«Als ich vor drei Jahren von der Diagnose erfuhr, dass mein Mann an Demenz erkrankt ist, war das ein grosser Schlag mit lauter unbeantworteten Fragen», sagt die 74-jährige Brigitte Walz. Sie schreitet dem Bodensee entlang. Seitdem pflegt sie ihren Mann. Oftmals empfindet sie die Aufgabe als Bereicherung. Oft auch als Belastung.

Anteil über 80-Jährige wächst

Wie Brigitte Walz geht es vielen Menschen. 25000 Personen im Kanton St. Gallen sind heute über achtzig. Die Hälfte von ihnen benötigt einmal Betreuung und Pflege.

Tendenz steigend. Bis 2035 nimmt die Bevölkerung 80 plus um noch fast 20000 Personen zu. Für ihre Pflege braucht es dannzumal statt 6500 Betten in Heimen knapp 9500.

Ohne Betreuung durch Angehörige geht es nicht

Etwa zwei Drittel der Betroffenen werden zu Hause betreut, meist von Angehörigen. «Ein Grosseinsatz, der von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Ohne betreuende Verwandte bräuchte es schon heute doppelt so viele Pflegebetten», sagt Thomas Diener, Geschäftsleiter von Pro Senectute St. Gallen.

Die Sozialorganisation hat daher vor drei Jahren ein Coaching für betreuende Angehörige lanciert: Ausgewiesene, langjährige Fachpersonen aus dem Sozialbereich begleiten die Angehörigen bei Fragen aller Art.

«Wer jahrelang den Partner oder ein Elternteil betreut, verdient Unterstützung. Eine Fachperson, bei der man mal den ′Kropf′ leeren kann, ist überaus wichtig.»
Thomas Diener

Pflegehilfen, Tageskliniken, Haushaltshilfen, sie stehen zur Verfügung. Was oft fehlt, ist eine seelische Unterstützung. «Die Pro-Senectute-Coaches sollen Lotsen im körperlich sowie seelisch herausfordernden Betreuungsalltag sein», sagt daher Thomas Diener.

Und sie sollen drei Dinge tun: Begleiten, im Sinn des menschlichen Anteilnehmens. Informieren: Zum Beispiel, wenn jemand den Umgang mit dem Partner neu lernen muss, der plötzlich an Alzheimer erkrankt. Und auch mal direkt im Auftrag der Angehörigen Unterstützung und organisatorische Hilfe bieten – etwa mit Versicherungen.

Pilotprojekt mit vierzehn Personen

So wie Brigitte Walz wurden im Rahmen des Pilotprojekts «Coaching für betreuende Angehörige» vierzehn Personen seit 2017 von drei Coaches begleitet. Nun wurde das Projekt ausgewertet.

Unterstützt wird das Vorhaben von der Stiftung Arthur und Ria Dietschweiler aus St. Gallen mit einem namhaften Betrag. Die Stiftung finanziert häufig soziale Projekte.

Zehn Betreuende nahmen an der Umfrage teil – allesamt Frauen. Nur ein einziger Mann wurde zu Beginn gecoacht. Seine Partnerin starb kurz nach dem Projektstart. Die meisten betreuten Partner litten an Demenz. Das Durchschnittsalter der Betreuerinnen: 70 Jahre. Die Betreuten waren im Schnitt knapp 76-jährig.

Als ihr Ehemann an Alzheimer erkrankte, tauchten viele Fragen auf. Brigitte Walz, die ihren Mann betreut, wurde von Pro Senectute gecoacht. Bild: pssg, zVg.

Das Bild stammt aus dem Film „Pro Senectute, Coaching für betreuende Angehörige“, © Pro Senectute St. Gallen/Meichtry Projekt, der in Zusammenhang mit der Auswertung des Pilotprojekts „Coaching“ hergestellt wurde.

Video

Coaching wurde sehr flexibel genutzt

Oft fanden die Coachings während knapp eines Jahrs statt – in der Regel einmal monatlich. Jemand bestellte den Coach 21, eine Person nur ein Mal. Im Schnitt waren es sieben Sitzungen. Die betreuenden Angehörigen nutzten das Angebot also ganz flexibel.

Angehörige erhielten wirklich Entlastung

Überdeutlich erreicht wurde das Hauptziel: Fast alle Teilnehmenden fühlten sich durch das Coaching deutlich entlastet. Die psychische Entlastung stand im Vordergrund.

Die Resultate können sich generell sehen lassen:
  • Es ergab sich eine klare Stressreduktion.
  • Die betreuenden Angehörigen fühlten sich gestärkt.
  • Sie konnten eigene Bedürfnisse besser umsetzen.
  • Es gelang ihnen, Freiräume besser zu nutzen.
  • Die Zufriedenheit mit den Coachings: 100 Prozent.

Die Unentgeltlichkeit ist ein Vorteil

Dass das Coaching kostenlos war, erachteten die meisten nicht als Bedingung, aber als Vorteil. In der Regel stand nicht der Informationsbezug im Vordergrund. Geschätzt wurde vorab der menschliche Austausch – die angestrebte Lotsenfunktion. Sowie dass die Coaches flexibel erreichbar waren.

Spitalentlassungen werden sicherer

«Zwingend nötig» finden das Coachingangebot die Zuweisenden: Spitalentlassungen sind mit einem Coach sicherer, verantwortungsvoller und früher möglich, sagen Spitäler und Ärzte. Beim Angebot handle es sich um eine starke zusätzliche Unterstützung der Grundversorgung im medizinischen und Pflegebereich. Ja es seien gar Gefährdungsmeldungen bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde vermeidbar.

Finanzielle Unterstützung allein reicht nicht

«Die Angehörigen leisten die Betreuung uneigennützig, aber zum Nutzen aller. Ohne sie wäre die Kostenfolge für die öffentlich Hand unüberschaubar», sagt Thomas Diener.

Dass betreuende Angehörige von Coaches psychisch entlastet sowie konkret unterstützt werden, ist für Diener wichtiger als ihre finanzielle Entlastung: «Darüber kann man diskutieren. Es entsteht aber der Eindruck, mit Geld sei die Sache erledigt. Betreuende Angehörige müssen in ihren individuellen Bedürfnissen unterstützt werden, damit sie nicht ausbrennen. Das lässt sich nicht abgelten.»

Das Coaching in dieser Form ist in der Schweiz einmalig. Vorbilder gibt es nicht einmal im Ausland. Nach den guten Resultaten der Auswertung soll die Unterstützung für betreuende Angehörige institutionalisiert werden.

Coach und Angehörige miteinander unterwegs

Albert Baumgartner war einer der drei Coaches bisher. Der Pro-Senecute-Mitarbeiter verfügt über jahrezehntelange Erfahrung in der Sozialberatung. Er findet es gut, dass er für die Angehörigen flexibel erreichbar war: «Ich ging auch mal auf einen Spaziergang. Wir machten uns im wörtlichen Sinn gemeinsam auf den Weg.»

Wie mit Brigitte Walz. Sie sagt, weiter dem See entlangschreitend – unterwegs auf ihrem langjährigen Betreuungseinsatz für ihren Gatten: «Der Coach ist ein Anker. Man kann anrufen, wenn man Fragen hat. Wenn’s schwierig wird, erhalte ich wieder Hoffnung, weil ich spüre, dass mir jemand beisteht. Mit meinen Fragen und Gefühlen bin ich nicht mehr alleine.»

Links – Lesen Sie mehr!


Konzept Coaching für betreuende Angehörige – Pro Senectute Kanton St. Gallen, 2017

Medieninfo Coaching für betreuende Angehörige – Pro Senectute Kanton St. Gallen, 9. 11. 2017

Publireportage Coaching für betreuende Angehörige – Pro Senectute Kanton St. Gallen, Mai 2018

Schlussbericht, Evaluation Coaching für betreuende Angehörige – Pro Senectute Kanton St. Gallen, 13.5.2019

Film „Pro Senectute, Coaching für betreuende Angehörige“, Pro Senectute St. Gallen/Meichtry Projekt, 19.9.2018

Kolumne „Südostschweiz“, „Bergführer gesucht“, Thomas Diener, 13.9.2017

Bericht „Zeitlupe“, Pro Senectute Schweiz, „Ein Hilfsnetz für Betreuende“, Oktober 2017

Bericht „St. Galler Tagblatt“, „Ein offenes Ohr für die Verwandten“, 10.11.2017

Interview Thomas Diener, „St. Galler Nachrichten“, 17.11.2017

Bericht „St. Galler Nachrichten“, „Coaching für betreuende Angehörige“, 22.11.2017

Bericht „Werdenberger & Obertoggenburger“, „Pro Senectute bietet Coaching für betreuende Angehörige“, 22.11.2017

Bericht „St. Galler Tagblatt“, „Wenn der Lebenspartner entgleitet“, 22.12.2019

Studien „Angehörigenpflege: Coach als Kraftspender“, doccheck.com, 11.12.2015