«Bei Pro Senectute St. Gallen ist das der beste Job der Welt»

Urs Meier ist seit 1990 bei Pro Senectute tätig. Erst als Leiter der Regionalstelle Zürichsee-Linth und seit 2007 wieder ausschliesslich als Sozialarbeiter und Berater. Einer der langjährigsten Pro-Senectute-Mitarbeiter im Gespräch über den Beratungsalltag – es ist einer der wichtigsten Tätigkeitsbereiche von Pro Senectute überhaupt.

Interview: Michael Walther, Redaktor Newsletter Pro Senectute Kanton St. Gallen

Herr Meier, wie würden Sie sachlich-nüchtern Ihren Aufgabenbereich umschreiben?
Zum einen sind wir zuständig für die Beratungen zugunsten älterer Menschen. Häufig haben wir mit ihnen allein direkten Kontakt. Häufig sind auch Angehörige dabei, mit Fragen, die ihren Vater oder ihre Mutter betreffen.

Und die weiteren Aufgaben?
Sie bestehen in der Zusammenarbeit mit unseren Freiwilligen, die bei Pro Senectute Sozialzeitengagierte heissen. Ein Teil von ihnen ist unseren Kundinnen und Kunden – die sonst selbständig und unterschriftsberechtigt sind und nicht etwa einen Beistand benötigen – bei den administrativen Aufgaben und bei Zahlungen behilflich. Die Sozialzeitengagierten werden von mir unterstützt und, wenn es neue braucht, auch gesucht und eingeführt.

Das reicht in den Bereich der Personalführung hinein.
Das ist so. Die Ortsvertreterinnen und -vertreter, eine andere Gruppe von Sozialzeitengagierten, machen Hausbesuche bei Seniorinnen und Senioren, etwa bei runden Geburtstagen. Sie geben ihnen Informationen ab und bereiten ihnen eine kleine Freude. Es geht darum, dass diese freiwilligen Mitarbeitenden gut eingebunden sind. Ich betreue sie, etwa indem ich für sie Weiterbildungen organisiere.

Sind das alle Tätigkeitsfelder?
Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von Pro Senectute leisten auch Öffentlichkeitsarbeit, etwa indem wir auf Anfrage Vorträge zu Altersfragen halten. Unsere Tätigkeit ist ohnehin ein fliessender Übergang von Information und Beratung. Sehr oft möchte jemand eine telefonische Auskunft – besteht ein Mahlzeitendienst in seiner oder ihrer Region, wo erhält man einen Vorsorgeauftrag? Diesen Bereich nennen wir Information, im Unterschied zu den umfangreicheren Beratungen.
Ich war einmal Stahlbauzeichner. Dort ist schon vor der Ausführung bekannt, wie jedes Teil aussieht. Ich wechselte in einen Bereich, wo manches unklar ist.

Sozialarbeit war nicht Ihr Erstberuf.
Ich war einmal Stahlbauzeichner. Dort weiss man schon vor der Ausführung, wie jedes Teil aussieht. Ich wechselte in einen Bereich, wo manches unklar und nicht alles genormt ist. Wenn man mit Menschen arbeitet, muss man in unbekannte Prozesse einsteigen. Vieles ist unsicher, in Entwicklung, und man muss die Lösung erst finden. Der Pythagorassatz ist immer klar. Wenn Sie eine neue Beratung beginnen, wissen Sie nie genau, was Sie erwartet.

Gibt es doch einen typischen Fall einer Beratung.
Ein Mann erzählt, dass seine Frau nach einem Hirnschlag im Spital weilt. Es ist ein grösserer gesundheitlicher Einbruch und sieht nicht sehr gut aus. Sie wird nicht nach Hause können und muss in ein Heim eintreten, ob für immer oder vorübergehend, ist noch ungewiss. Das Ehepaar besitzt ein Haus. Beide sind pensioniert, und bis jetzt ging es gut. Aber nun plagen den Mann grosse Sorgen, das Haus bei einem langen Pflegeheimaufenthalt verkaufen zu müssen.

Da kommt vieles zusammen.
Er muss «verdauen», dass die Partnerin die Unabhängigkeit verlor – ein riesiger Wechsel und eine grosse Belastung für Partnerschaft. Über all dem hängt das Damoklesschwert, es komme jetzt dann monatlich eine Rechnung des Pflegeheims von 10 000 Franken. Und damit folge bald der Konkurs.

Sie müssen rasch reagieren und unverzüglich beraten.
Sowie nüchtern rechnen. Dies tat ich in meinem früheren Beruf auch gern. Heute erstelle ich Kalkulationen im Bereich Sozialversicherungen. Man muss ein Budget aufstellen, die Ergänzungsleistungen evaluieren – dann findet sich in sehr vielen Fällen eine Lösung. Es zeichnet sich wieder Licht am Horizont ab, wenn sich aufzeigen lässt, dass der Pflegeheimaufenthalt auch mit dem Haus finanzierbar ist, wenn klargestellt wird, dann und dann muss man den Antrag auf Ergänzungsleistungen stellen, ungefähr dann seien die Entscheidungen zu erwarten, und so werde etwa das Budget aussehen.

Eine grosse Erleichterung.
Es fällt eine grosse Sorge von den Betroffenen ab. Viele kommen mit der Annahme in die Beratung, der bevorstehende Heimaufenthalt bedeute das finanzielle Desaster, gehen aber in der Gewissheit heim, dass es einen Weg gibt.
Schon Manche kamen in der Annahme zu uns, ein bevorstehender Heimaufenthalt bedeute das finanzielle Desaster – und kehrten mit einer grossen Erleichterung wieder nach Hause zurück.

Dennoch ist nicht alles gelöst.
Die Ratsuchenden können sich auf die Krankheitsgeschichte und den Wechsel in der Persönlichkeit und der Beziehung konzentrieren. Eine grosse Problematik, aber darüber wollen die meisten bei mir nicht sprechen. Wenn sie beim Thema Finanzen wieder einen Weg sehen – nachdem sie erst überhaupt keinen Überblick mehr hatten und nicht selten von Kolleginnen und Kollegen Unzutreffendes hörten –, dann reicht das schon.

Für den Umgang mit dem kranken Partner bietet sich das Coaching für betreuende Angehörige von Pro Senectute an...
Die Betroffenen beziehen bei uns die praktische Hilfe, etwa wie man einen EL-Antrag einreicht. Wir zeigen, wie es weitergeht. Das Beziehungsmässige wird häufig selber gelöst. Das Coaching für betreuende Angehörige von Pro Senectute ist ein längerer Prozess. In unserer Region wird es erst später eingeführt.
Die Betroffenen erhalten bei uns konkrete Hilfe, etwa wie man einen Antrag für die Ergänzungsleistungen einreicht. Das Beziehungsmässige lösen sie häufig selber.

Sie stehen oft am Anfang einer Krankheitsgeschichte.
Die Beratungen in Zusammenhang mit einem Heimeintritt sind tatsächlich ein häufiger Fall. Die Alters- und Pflegeheime verweisen beim Heimeintritt sogar oft auf die Möglichkeit, sich bei uns beraten zu lassen.

Sie erteilen telefonisch Rat, aber auch auf Termin.
Manchmal gehen pro Tag zwei Anfragen ein, mal keine, dann vier, wo ich zurückrufe, weil ich gerade besetzt war. Hin und wieder stellt sich die Frage, ob die Ratsuchenden bei uns am richtigen Ort sind. Vielleicht handelt es sich um IV-Bezüger. Dann vermitteln wir die Person weiter. Wir haben also auch eine Triagefunktion inne.
Beratungen bei einem Heimeintritt sind häufig. Die Alters- und Pflegeheime verweisen sogar oft auf die Möglichkeit einer Beratung bei uns.

Sie lokalisieren das Problem schon beim ersten Anruf.
Bei anderen Organisationen nimmt jemand den Anruf entgegen und gibt das Problem weiter. Danach verabredet der Sozialarbeiter einen Termin. Pro Senectute funktioniert niederschwellig, wie ein heisser Draht. Ich schätze es sehr, dass bei uns die erste Anfrage direkt bei mir landet und ich die Ratsuchenden vom ersten Moment an bei mir habe. Es ist erstaunlich, was man in den ersten fünf Minuten eines Telefonats alles aufnimmt.

Das erfordert Spontaneität.
Man erhält mit der Zeit Übung und merkt rasch, ob eine Person fröhlich, traurig oder belastet und wie umgänglich sie ist. Wie schwerwiegend das Problem sein könnte, dringt bereits am Anfang durch, und man kann den Prozess dann bereits steuern.

Ich wusste nicht, dass Sie so viel am Telefon beraten. Persönliche Gespräche gibt es auch.
Es ist möglich, dass jemand am Morgen anruft und die Leute am Nachmittag schon bei mir im Büro sind. Diese rasche Reaktion ist super für die Betroffene. Sie merken, dass sie gehört werden. Das Angebot ist auch super für die Organisation. Ich schätze es, dass ich die Kundinnen und Kunden von A bis Z selber betreuen kann.
Wir funktionieren niederschwellig, wie ein heisser Draht. Ich schätze es, dass die Anfragen direkt bei mir landen und ich die Ratsuchenden vom ersten Moment an betreuen kann.

Eine grosse Kundenfreundlichkeit.
Wir haben uns das seit vielen Jahren auf die Fahnen geschrieben und lösen es auch ein.

Bei Ihrer Arbeit lässt sich kaum von einem Routinealltag sprechen.
Eine gewisse Routine stellt sich schon ein. Wenn man viele Jahre dabei ist, erfasst man die verschiedenen Themen rasch. Im Grunde genommen beraten wir unterschiedliche Leute mit den gleichen Fragestellungen – den pensionierten Kantonsschullehrer ebenso wie einen altledigen Knecht vom Obertoggenburg. Die Gespräche verlaufen nie gleich, das stimmt. Aber die Fragestellungen ähneln sich. Die Leute sind stets anders, und so bleibt es spannend – aufgrund der Menschen.
Es kann sein, dass nach einem Anruf am Vormittag die Kundin oder der Kunde schon am Nachmittag bei mir im Büro ist. Das ist super für die Betroffenen. Und super für Pro Senectute.

Gibt es eine Beratung, die sie nie vergassen – besonders schön, besonders bedenkenswert?
Das ist etwas heikel wegen der Schweigepflicht – ich hatte mal einen in einem Heim wohnhaften Klienten, wo er der Einzige mit einem Computer mit einem Internetanschluss war. Rasch stellte sich heraus, dass er mit einer Partnerin im Ausland angebandelt hatte. Mir läutete die Alarmglocke. Ich sagte: Wenn sie Geld will, passen Sie auf. Seine Antwort: Und wenn ich schon Geld geschickt habe? Obwohl ich ihn begleitete, überwies er immer wieder die Beträge, die sie ihm auf raffinierte Art abluchste, bis die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde eingeschaltet wurde. Da hatte er 6000 Franken in den Sand gesetzt. Aber er sagte: Es war halt doch schön. 

«Ich empfinde immer Respekt für die Kundinnen und Kunden, ihre Geschichte und ihren Standpunkt»: Urs Meier leitete die Regionalstelle Zürichsee-Linth und ist seit 29 Jahren Sozialarbeiter und Berater bei Pro Senectute. Bild: pssg, zVg.

 
Noch ein unvergessliches Beispiel?
Ich wurde zu einer leicht dementen Frau gerufen. In ihrem Haus herrschte ein Durcheinander, beigenweise lag Ware herum. Ich fand, man solle ein bisschen Überblick schaffen, und fragte, ob ich einen Berg Couverts ins Büro nehmen und für sie durcharbeiten solle. Die Dame hatte nichts dagegen. Ich füllte eine grosse Plastictasche. Unter der Haustür wurde mir nochmals bewusst, wie viel Vertrauen sie eigentlich hatte. Ich sagte: Passen Sie sonst aber auf, dass Sie niemandem auf den Leim kriechen. 

Und dann?
Anderntags rief die Polizei an. Die Frau hatte plötzlich das Gefühl gehabt, jemand habe sie übers Ohr gehauen. Sie rief die Polizei an und sagte, jemand von der Pro Senectute sei bei ihr gewesen. Sie hätte mich um ein Haar angezeigt. Wir konnten alles klarstellen – und danach war auch alles wieder gut.
Als ich der Frau riet, nicht allen auf den Leim zu kriechen, rief mich anderntags die Polizei an. Wir konnten klarstellen, dass ich Sozialarbeiter bei Pro Senectute bin.

Ihr Einblick in menschliche Schicksale ist gross.
Wenn man diese Arbeit professionell macht, ist das so. Bei Ärztinnen und Ärzten wird auch nicht gefragt, was ihnen alles noch erzählt wird. Das zählt einfach dazu.

Gibt es ein Spannungsfeld – wo Sie helfen können und wo das nicht möglich ist und Sie sich aufs Zuhören beschränken müssen?
Ich helfe, wo ich zuständig bin und Beistand leisten kann. Manchmal ist die Zeit vielleicht noch nicht reif, oder ein Problem löst sich anders auf. Natürlich sieht man Dinge, die einem Leid tun. Aber auch Schicksale, wo man staunt, wie gross der Lebensmut der Leute ist. Ich versuche zu lösen, wofür ich zuständig bin. Man vermag nicht immer die ganze Welt zu ändern. 
Klar gibt es Dinge, die einem Leid tun. Aber ich begegne auch Schicksalen, wo ich über den Lebensmut der Leute staune.

Wo endet Ihre Zuständigkeit?
Bei zwischenmenschlichen Konflikten – zwischen Eltern und Kindern. Oder Nachbarn. Das kann zwar in eine Beratung hineinspielen, aber da lässt sich oft nur schwer etwas tun. Dasselbe gilt für Personen, die nicht mit Geld umgehen können. Mit ein bisschen Vernunft könnte man alles richten. Aber man kann die Leute nicht zwingen. An Grenzen stossen wir auch bei Suchtfragen.

Was unternehmen Sie da?
Je nachdem versuchen wir, den Leuten spezifische Hilfe zu vermitteln. Personen im AHV-Alter nehmen aber selten Unterstützung in Anspruch. Nicht etwa, weil sie weniger tränken, aber es gibt bei ihnen keinen Druck seitens der Arbeitgeber wie bei den Jüngeren.

Weshalb gelangen Nachbarschaftsfragen auf Ihren Tisch?
Sie spielen manchmal in ein vordergründiges Problem hinein. Als Aussenstehende können wir 
zu verstehen versuchen, wie sich das entwickelte und allenfalls verändern lässt. Grundsätzlich sind wir offen für alle Bereiche und bringen unsere Erfahrung ein. Da liegt ein Unterschied zu meiner früheren Tätigkeit als Stahlbauzeichner, wo alles festgelegt war. Die Sozialarbeit bietet hier einen grossen Gegenpol, und dies ist ja in meinem Sinn.
Manchmal kommen auch Nachbarschaftsstreitigkeiten auf den Tisch. Wir sind, so weit wir können, offen für alle Themen und bringen unsere Erfahrung ein.

Wie gehen Sie mit Ihrer eigenen Betroffenheit um, wie grenzen Sie sich ab?
Ich nehme selten etwas nach Hause mit. Es ist mein Job. Danach verlasse ich das Büro. Zu grosse Betroffenheit und Mitleid können lähmend sein. Das hilft in der beruflichen Beratung nichts. Ich empfinde aber immer Achtung. Das ist mir wichtig: Achtung vor den Menschen, ihrer Geschichte und ihren Standpunkten – sowie Akzeptanz.

Wie reflektieren Sie das Erlebte?
Während der Arbeit, nach den Besprechungen. Wenn ich auf dem Heimweg die Unterführung durchschritten habe, bleibt es zurück. Es kommt höchst selten vor, dass ich abends meiner Frau etwas erzähle.

Was tut der Pro-Senectute-Sozialberater Urs Meier privat?
Da ich heute sechzig Prozent arbeite, bleibt Zeit für Hobbys: Ich spiele Hackbrett im Toggenburger-, Appenzeller- und Klezmerstil. Ich wandere gern und bin seit kurzem diplomierter Pilgerbegleiter, leite also Pilgerreisen und erzähle an Ort und Stelle von den Hintergründen und gebe Anregungen. Ausserdem halte ich Meditationsabende. Das Thema Meditation begleitet mich seit zwanzig Jahren. Zudem habe ich eine Frau, zwei erwachsene Kinder – Familie also.

In den Büropausen gehen die Gespräche über die Arbeit auch nicht weiter?
Unser Sozialarbeiterteam tauscht sich wöchentlich in Wil aus. Man kann da die fordernden Fälle vorbringen. Stets ist es möglich, eine Kollegin oder einen Kollegen anzurufen oder sich mit ihm oder ihr im Büro nebenan auszutauschen. Dies findet statt und ist wichtig.
Der private Urs Meier spielt Hackbrett, wandert gern, ist diplomierter Pilgerbegleiter und leitet Meditationsabende.

Bietet Ihnen Ihr Arbeitgeber ein Coaching?
Dies besteht im wöchentlichen Teamgespräch. Zudem führen wir Intervisionen durch – wir Fachleute sitzen interdisziplinär zusammen. Intervisionen funktionieren nach einem Raster. Man bündelt Problemstellungen und arbeitet sie durch. Dabei wirken auch Mitarbeitende der Haushilfe und des Sekretariats von Pro Senectute mit.

Welche Unterstützungen könnte Ihnen Pro Senectute noch bieten?
Pro Senectute St. Gallen besitzt ein gutes, breites Angebot. Es gilt, mit den vorhandenen Ressourcen auszurichten, was möglich ist. Und Pro Senectute macht viel mit den vorhandenen Mitteln. Die sind immer beschränkt.

Worin bestehen die Voraussetzungen für Ihre Arbeit – menschlich und formal?
Strukturiertes Denken, gute Problemerfassung, sich abgrenzen, aber auch offen sein und auf Menschen eingehen können. Grundsätzlich braucht es ein positives Menschenbild. Hinzu kommt die entsprechende Ausbildung. Sozialarbeit wird heute an der Fachhochschule studiert. Vor vierzig Jahren hatte die praktische Arbeit einen höheren Stellenwert. Glücklicherweise besuchen die Studierenden auch heute noch Praktika.

Ich vernehme eine leise Skepsis dem heutigen Ausbildungsweg gegenüber.
Früher wusste man wenig. Und konnte viel. Heute ist es umgekehrt. Quereinsteiger tun jedem Beruf gut und brechen enges Denken auf. Ich finde es immer noch gut, wenn jemand eine Lehre hat und sich danach weiterbildet. Das gibt gute Sozialarbeiter. Verstehen Sie mich nicht falsch, nicht nur sie sind gut. Aber wenn man schon im Leben stand, bringt man die entsprechende Erfahrung mit.
Ich sage nicht, nur Quereinsteiger sind gute Sozialarbeiter. Aber wer im Leben stand, bringt die entsprechende Erfahrung mit.

Sie leiteten lang die Pro-Senectute-Regionalstelle Zürichsee-Linth. 2007 wechselten Sie ganz in die Beratung. Wieso?
Für einen Stellenleiter ist heute der direkte Kontakt mit den Kundinnen und Kunden nicht mehr möglich. Als ich bei Pro Senectute begann, war ich zwanzig Prozent Stellenleiter und achtzig Prozent Sozialarbeiter. Nach 15 Jahren war's umgekehrt. Ich wusste, dass ich mich aus der Sozialarbeit verabschieden muss, wenn ich weiter im Leitungsbereich arbeiten will. Dazu war ich nicht bereit. Dass ich seitdem wieder ausschliesslich Sozialarbeiter bin, bereute ich keinen Tag. 
Dass ich seit 2007 wieder ausschliesslich Sozialarbeiter bin, bereute ich keinen einzigen Tag.

Sie arbeiten schon 29 Jahre für Pro Senectute und haben eine grosse Expertise. Was hielt Sie so lang dabei?
Ich blieb Pro Senectute treu, weil sich die Organisation immer entwickelte. Die Veränderungen seit 1990 waren riesig. Statt dass ich die Stelle wechselte, wandelte sich Pro Senectute – und hielt mich auf Trab. Als ich Stellenleiter war, veränderte sich besonders viel. Doch auch in der Sozialarbeit ist das so. Pro Senectute ist eine Organisation, die nicht stillsteht: eine lernende Organisation.

Umschreiben Sie die Veränderung.
Alles wurde komplexer. Als ich zu arbeiten begann, bestand die Spitex im Nachbardorf aus einer „Schwester“, die die Leute zu Hause pflegte, Verbände legte, Kaffee kochte, wenn nötig einkaufte – alles auf einem einfachen, praktischen Niveau. Sie stand mehrheitlich am Bett. Die heutigen Pflegefachfrauen üben vielfältige administrative Arbeiten aus.
Pro Senectute ist eine Institution, die nicht stillsteht. Eine Organisation, die lernt.

Was änderte bei Pro Senectute?
Zum Glück weniger. Wir sind als Sozialarbeiter immer noch sehr nah bei den Menschen und können weiterhin direkt mit ihnen arbeiten. Es bestehen aber zahlreiche Auflagen: Wir müssen alles dokumentieren, die Rahmenbedingungen einhalten, die die öffentliche Hand einfordert, da sie mitzahlt. Dass der Anteil der Arbeit nah beim Menschen immer noch enorm hoch ist, ist der Grund, dass ich sie immer noch gern mache.

Sie sind eine Vertrauensperson und nicht austauschbar.
Es spielt immer noch ein Rolle, wer ich als Mensch bin und wie ich agiere und reagiere. Wie bei  Ärztinnen und Ärzten – ob ich zu Doktor A oder B gehe, kann einen Riesenunterschied ausmachen, obwohl beide gleich ausgebildet sind. Beim einen fahre ich besser, beim anderen vielleicht nicht so gut. Sozialarbeit ist geprägt vom Menschen – dem Sozialarbeiter, der Sozialarbeiterin, und von den Menschen in der Beratung. Das ist herausfordernd und macht zufrieden. Auch wenn's manchmal Schwierigkeiten bereitet.
Als ich bei Pro Senectute begann, bestand die Spitex im Nachbardorf aus einer „Schwester“, die die Leute pflegte, Verbände legte, Kaffee kochte und wenn nötig einkaufte. Bei Pro Senectute waren die Veränderungen etwas überschaubarer.

Wenn jemand eine Arbeit so lang ausführt wie Sie – ist es dann der beste Job der Welt?
Ja. Bei Pro Senectute St. Gallen.

Was lernten Sie für immer bei Ihrer Arbeit?
Vertrauen ins Leben.
Ob's der beste Job der Welt ist, wenn ihn jemand ihn so lange ausübt wie ich? Bei Pro Senectute St. Gallen schon.

Diese Lehre zogen Sie wirklich aus der Arbeit?
Zu einem schönen Teil Ja.

Und was änderte sich bei Ihnen in der Dimension all dieser Jahre?
Ich wurde älter, abgeklärter. Gelassener. Dies wäre wohl auch einem Automechaniker geschehen. Das bringt der Lebensweg mit sich.
 

Schon 29 Jahre Leiter und Sozialarbeiter bei Pro Senectute St. Gallen

Urs Meier arbeitet seit 1990 bei Pro Senectute St. Gallen. Er lernte Stahlbauzeichner und bildete sich später drei Jahre zum Sozialpädagogen weiter. 1992 übernahm er die Leitung der Regionalstelle Zürichsee-Linth. Seit 2007 ist er bei der Regionalstelle Wil & Toggenburg als Sozialarbeiter tätig, weil er sich wieder auf die Beratungstätigkeit konzentrieren wollte. Er habe diesen Schritt keinen Tag bereut, sagt er. 2017 reduzierte er sein Pensum von 100 auf 60 Prozent. Urs Meier ist 62 und lebt in Uznach.

Pro Senectute, die grösste Sozialorganisation im Kanton St. Gallen, beschäftigt 27 SozialberaterInnen zu 18 Stelleneinheiten. (Stand Ende 2019) Dazu kommen rund 440 Mitwirkende im Bereich des Sozialzeitengagements. Der Bereich Sozialarbeit umfasst bei Pro Senectute die Beratung – mitunter ein längerer Prozess, der meist auf Termin stattfindet – und die Information: Hier werden am Telefon einfachere Auskünfte erteilt, die oft ebenfalls in Richtung Beratung gehen. 

Der Aufwand von Pro Senectute St. Gallen im Beratungsbereich beträgt 4,5 Millionen Franken im Jahr – das Gesamtbudget liegt bei rund 21 Millionen Franken. 2018 nahmen 3990 Kundinnen und Kunden 15 439 Stunden Sozialberatung in Anspruch. 9043 holten sich sonstwie Rat. mw.