Das Leistungsportfolio von Pro Senectute muss weiterhin klar auf die Grundversorgung ausgerichtet sein

Seit Anfang 2019 präsidiert Renato Resegatti den Stiftungsrat von Pro Senectute Kanton St. Gallen. Er findet die bereichsübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Pro-Senectute-Regionalstellen wichtig. Und ebenso das reibungslose Zusammenspiel der Partner in der Altersvorsorge: Pro Senectute, Spitex, Heime und weitere. Soziale Anliegen, so Resegatti, seien für ihn immer wichtig gewesen. Der Stiftungsratspräsident im Interview.

Interview: Michael Walther, Redaktor Newsletter Pro Senectute Kanton St. Gallen

 


Renato Resegatti 
ist seit 2019 Präsident des Stiftungsrates von Prosenectute Kanton St.Gallen



 
Herr Resegatti, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Ihr erstes Jahr in der neuen Funktion bei Pro Senectute St. Gallen denken?
Ein gewisser Stolz, Stiftungsratspräsident einer der wichtigsten Sozialorganisationen für Menschen im Alter im Kanton St. Gallen zu sein.

Und beim Blick auf 2020?
In den vergangenen Monaten führten wir eine Diskussion darüber, wie wir uns strategisch positionieren und in Zukunft sehen wollen. Jetzt geht es darum, konkrete Schritte und Massnahmen zu treffen, damit wir diesen Zielvorstellungen, denen wir in weiten Teilen schon nachleben, noch besser gerecht werden können.
Pro Senectute Kanton St. Gallen sollte konsequent den Weg weitergehen, den sie in der Vergangenheit entwickelt hat, nämlich Sozialorganisation bleiben und sich auf die Grundversorgung von Menschen im Alter konzentrieren.
Sie waren bereits vor dem Amt als Stiftungsratspräsident für Pro Senectute tätig. Wie kam es dazu?
Ab 2012 war ich Mitglied im Regionalkomitee der Stadt St. Gallen. Ich war damals sechzig und fand das mit Blick auf die Pensionierung und den nächsten Lebensabschnitt eine gute Sache, weil ich sah, dass Pro Senectute eine sinnvolle und wichtige Institution ist. Beim Rücktritt meiner Vorgängerin im kantonalen Stiftungsrat musste ich deshalb nicht lange überlegen, ob ich das Präsidium übernehmen soll.

Damit sind Sie eine mehrjährige Verpflichtung und Verantwortung für Pro Senectute eingegangen. Nennen Sie drei Bereiche, worauf Sie bei Ihrer Arbeit in dieser Zeit besonderes Augenmerk legen wollen.
Ein Ansatzpunkt besteht darin, dass wir innerhalb der Pro-Senectute-Organisation bei den Regionalstellen die interdisziplinäre Zusammenarbeit weiter fördern und optimieren.

Können Sie das konkretisieren?
In den Regionalstellen haben wir die Leistungsbereiche «Sozialberatung», «Hilfe und Betreuung» – also die Haushilfe und Betreuung der bedürftigen Menschen vor Ort – sowie «Begegnung und Austausch», das heisst, das Kurswesen und die Sozialraumarbeit.

Im Sinn der erwähnten Zielsetzung, immer mit einem gesamtheitlichen, professionellen Ansatz und nach dem Prinzip der Ressourcenorientierung vorzugehen, ist es wichtig, dass unsere Mitarbeitenden in den drei Leistungsfeldern den Blick über den eigenen Bereich hinaus haben und interagieren.

So können wir unsere Dienstleistungen zum Nutzen und zum Wohl unserer Kundinnen und Kunden als stimmiges Gesamtpaket anbieten. Darauf achten unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwar bereits heute. Aber es gibt noch Spielraum für Verbesserungen, den wir unbedingt nutzen sollten.
Wenn unsere Mitarbeitenden den Blick über ihren eigenen Leistungsbereich hinaus haben und optimal zusammenarbeiten, ist gewährleistet, dass wir unsere Dienstleistungen bedarfsgerecht und als stimmiges Gesamtpaket anbieten können.

Wie lautet Ihre zweite Zielsetzung?
Sie betrifft die Zusammenarbeit mit den Partnern. Wir sind überzeugt, dass die Grundversorgung im Verbund geschehen soll. Es geht also darum, dass alle Akteure das tun, was sie am besten können. Unsere wichtigsten Partner – Spitex sowie Alters- und Pflegeheime – sind im medizinisch-pflegerischen Bereich tätig. Wir decken subsidiär den nichtpflegerischen Bereich ab. Für eine gute und umfassende Versorgung der Menschen im Alter braucht es beides. Keiner der Akteure ist der Platzhirsch.

Ähnlich wie bei der Zusammenarbeit innerhalb von Pro Senectute, wo wir auch zwischen den einzelnen Leistungsbereichen gut zusammenarbeiten müssen und der Informationsaustausch gewährleistet sein muss, ist es über die Pro Senectute hinaus wichtig, dass die verschiedenen Partnerorganisationen, welche die existenzielle, soziale und medizinisch-pflegerische Grundversorgung sicherstellen, gut zusammenarbeiten. Zum Beispiel, indem man Schnittstellen klar regelt oder im Arbeitsalltag relevante Informationen gegenseitig weitergibt.
In unserer Strategie haben wir festgelegt, die optimale Versorgung im Alter im Verbund zu gewährleisten.

Und das dritte Ziel?
Es betrifft die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand. Beim Service public im Altersbereich – also bei dem Teil, den die öffentliche Hand sicherstellen muss – sind im Kanton St. Gallen die Gemeinden für die Grundversorgung zuständig. Sie müssen und können jedoch nicht alles selber machen. Ich finde es deshalb gut, dass die verschiedenen Sozialorganisation, die es gibt, die Grundversorgung im Verbund sicherstellen und die Gemeinden mehr die Rolle des Auftragsgebers innehaben.

Wenn wir es als Leistungserbringer unter Partnern schaffen, dass wir optimal kooperieren, uns gezielt ergänzen und die Schnittstellen so gestalten, dass es nicht zu Problemen kommt, erweisen wir auch den Auftraggebern – den Gemeinden – einen Dienst.
Ähnlich wie innerhalb von Pro Senectute ist es über unsere Organisation hinaus wichtig, dass wir unter den verschiedenen Partnerorganisationen – hauptsächlich auch im Dreieck Pro Senectute, Heime und Spitex – gut zusammenarbeiten, beispielsweise indem man im Arbeitsalltag relevante Informationen gegenseitig weitergibt.

Sie hatten in Ihrer beruflichen Vergangenheit häufig mit Finanzen zu tun und waren langjähriger Direktor der kantonalen Gebäudeversicherung. Welchen Stellenwert hat für Sie Sicherheit?
Obwohl ich Ökonom bin – und Ökonomie verbindet man ja häufig mit emotionslosem Wirtschaften –, habe ich in meinem ganzen Werdegang soziale Anliegen immer ernst genommen oder eben die Sicherheit der Menschen für sehr wichtig gehalten.
Sicherheit umfasst für mich nicht nur die Existenzsicherung im engeren Sinn, sondern auch das menschliche Wohlbefinden. Das gilt im besonderen für Menschen im Alter. Hier ist Sicherheit ein ganz zentrales Qualitätsmerkmal, das ein Leben in Würde, Glück und Zufriedenheit erst ermöglicht. 

Wird Sicherheit im Alter also sogar noch wichtiger?
Ja, insofern, als man gebrechlicher wird – und zwar in allen Facetten des gesundheitlichen Wohlbefindens: körperlich, bezüglich Geisteskraft und psychisch. So steigt im Alter auch das Risiko der Vereinsamung und der sozialen Isolation – auch das eine Form der Gebrechlichkeit.

Das Sicherheitsbedürfnis wächst selbstverständlich auch im materiellen Bereich, denn viele ältere Menschen können nurmehr auf knappe finanzielle Ressourcen zurückgreifen, wenn sie von der Altersvorsorge leben müssen.

All diese Aspekte bilden genau das Aktionsfeld, wo wir als Pro Senectute unseren Beitrag leisten, um sozialer, materieller und gesellschaftlicher Not vorzubeugen, sie zu beheben oder zumindest zu lindern.
Sicherheit umfasst für mich auch das menschliche Wohlbefinden, gerade im Alter. Es ist ein zentrales Qualitätsmerkmal, das ein Leben in Würde, Glück und Zufriedenheit ermöglicht.

Welchen Stellenwert hat für Sie der Begriff Solidarität?
Sie scheint mir aus der Optik von Pro Senectute und damit auch in meiner Rolle als Präsident sehr zentral. Denn in den nächsten Jahren wird der Anteil der Menschen, die zwar im Rentenalter stehen, aber noch lange rüstig bleiben, weiterhin stark wachsen.

Um nun die vorhin erwähnten Grundbedürfnisse bei der immer grösseren Anzahl Menschen dennoch abdecken zu können, ohne dass der Staat finanziell an die Grenzen stösst, braucht es Solidarität auch innerhalb der Generation der Älteren.

In unserem Verständnis sollen sich beispielsweise die jüngeren, noch rüstigen Seniorinnen und Senioren nicht einfach egoistisch auf sich selbst konzentrieren und dem blossen Konsum verfallen, sondern sich einbringen und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, indem sie etwas für ältere Seniorinnen und Senioren oder Gleichgesinnte unternehmen. Darauf zielt unser Modell des Sozialzeitengagements ab.
Dies ist genau das Aktionsfeld von Pro Senectute: einen Beitrag zu leisten, um sozialer, materieller und gesellschaftlicher Not vorzubeugen.

Die generationenübergreifende Solidarität braucht es aber auch, oder?
Selbstverständlich muss die Solidarität über alle Generationen hinweg gespannt werden. Für unsere Arbeit bei Pro Senectute ist es deshalb wichtig, dass wir zum Beispiel auch die Kinder der Rentnerinnen und Rentner in die Betrachtung einbeziehen. Oder das Umfeld alter Menschen, etwa ihr Wohnquartier oder den Wohnblock. Hier erfüllen jüngere Menschen bei der sozialen Integration, die idealerweise generationenübergreifend geschieht, eine wichtige Funktion. All diese Ressourcen gilt es bei der Altersarbeit sinnvoll zu nutzen.

Sie sagten es bereits, Pro Senectute Kanton St. Gallen ist gut aufgestellt. In der Tat sind die Leistungen beeindruckend, wenn man die Kennzahlen betrachtet: Beratungen, Mahlzeitendienst, Haushilfestunden, Kurswesen und noch vieles mehr. Gibt es auch Risiken für Pro Senectute?
Eine gewisse Gefahr sehe ich – zwar nicht aus St. Galler Optik, aber bei Pro Senectute Schweiz –, dass man aufgrund der stagnierenden oder rückgängigen Bundessubventionen neue Erträge zu generieren versucht, indem Produkte ins Leistungsportfolio aufgenommen werden, die nicht auf die Grundversorgung ausgerichtet sind, sondern auf marktgängige, kommerzielle Angebote abzielen.

Dies wäre verheerend. Wenn das geschieht, würden wir als Pro Senectute unsere Identität und unser Alleinstellungsmerkmal verlieren und wären für unsere Partner – die Gemeinden, für die wir ein wichtiger Outsourcingpartner sind – nicht mehr glaubwürdig.
Um die Grundbedürfnisse bei einer immer grösseren Anzahl Menschen decken zu können, ist es wichtig, dass sich die noch jüngeren Rentnerinnen und Rentner nicht egoistisch auf sich selbst konzentrieren und dem blossen Konsum verfallen, sondern dass sie auch etwas für ältere Seniorinnen und Senioren und Gleichgesinnte leisten. Darauf zielt unser Modell des Sozialzeitengagements ab.

Haben denn nicht die meisten Pro-Senectute-Regionalstellen bereits Leistungsaufträge mit den Gemeinden?
Im Kanton St. Gallen schon. Aber andere Kantonalsektionen sind nicht so gut abgesichert und verfügen über keine Leistungsaufträge. Wenn dann die Bundessubventionen wegfallen, stehen sie im Regen. Dann besteht eben die Gefahr, dass sie sich aus rein kommerziellen Gründen bloss noch auf marktgängige, profitable Leistungsangebote konzentrieren. Doch da muss ich sagen, dies können kommerzielle Anbieter besser. Wenn wir uns dort auch stark machen wollten, würden wir uns verzetteln. Um der Glaubwürdigkeit willen wollen wir dies im Kanton St. Gallen verhindern und in den bewährten Kernbereichen stark und professionell bleiben.

Wie, Herr Resegatti, möchten Sie einmal alt werden?
Wenn es irgendwann dem Lebensende zugeht, hoffe ich, dass die Phase, wo Gebrechlichkeit und Krankheit auftreten, kurz und erträglich ist. Im Moment darf ich mich aber noch zu den jungen, rüstigen „Alten“ zählen. Da hoffe ich natürlich, dass dieser Zustand noch möglichst lange anhält.

Im übrigen gilt auch für mich, was allgemein bekannt ist. Nämlich dass zur Würde und zum Wohl des Menschseins im Alter dazugehört, dass man ein soziales Umfeld hat, das einem ein gewisses Wohlbefinden verleiht, und dass man Zugehörigkeit und Wertschätzung erfährt.

All dies ist ja bekanntlich eine wichtige Voraussetzung, um glücklich und selbstbestimmt zu leben, und das ist sicher auch ein Element, weshalb ich mich bei Pro Senectute einsetze und einen Beitrag an die Gesellschaft leisten will.
Schliesslich – wo soll Pro Senectute in zehn Jahren stehen?
Pro Senectute Kanton St. Gallen sollte sich nicht verleugnen und konsequent den Weg weitergehen, den sie in der Vergangenheit beschritten und bisher entwickelt hat: nämlich Sozialorganisation bleiben, sich weiterhin auf ihre Kompetenzfelder konzentrieren und sich nicht kommerzialisieren.

Dabei muss sie sicher auch eine gewisse Flexibilität aufbringen. Ich gehe nämlich davon aus, dass es in der Altersarbeit Veränderungen geben wird. Es stehen  neue Wohnformen zur Diskussion, die dazu beitragen sollen, dass die letzte Lebensphase noch ein bisschen menschenwürdiger und besser gestaltet werden kann. Die Lösung geht wahrscheinlich in die Richtung, dass der Schritt vom Wohnen zu Hause in ein rein stationäres Umfeld nicht mehr so abrupt erfolgt.
Wenn Pro Senectute in kommerzielle Marktfelder expandieren würde, hätten wir ein Glaubwürdigkeitsproblem auch gegenüber unseren Auftragsgebern.

Dies wird sich zweifellos auch auf die Arbeit von Pro Senectute auswirken: Wenn das Zusammenspiel zwischen dem ambulanten und stationären Bereich intensiver und variantenreicher wird, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Pro Senectute, stationäre Dienstleiter und Pflege zusammenarbeiten müssen.

Das deckt sich mit der vorher genannten Zielsetzung der interdisziplinären Zusammenarbeit und Durchlässigkeit inner- und ausserhalb der Organisation, also der Bereitschaft, sich auf die eigene Rolle im Verbund der Grundversorgung zu beschränken – und auch loszulassen, wenn ein anderer Partner besser geeignet ist.

Seit 2007 bei Pro Senectute
und im Stiftungsrat

Renato Resegatti, Jahrgang 1952, ist Bürger von Pura TI und St. Gallen. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Nach der Ausbildung als lic. oec. HSG wurde er volkswirtschaftlicher Mitarbeiter des Finanzdepartements des Kantons St. Gallen, leitete dann während einiger Jahre die Kantonale Finanzkontrolle und war langjähriger Generalsekretär des Finanzdepartements.

2007 bis 2017 war er Direktor der Gebäudeversicherung des Kantons St. Gallen. Er hatte aufgrund seiner beruflichen Stellung verschiedene Verwaltungsrats- und Aufsichtskommissions-Mandate inne bei Institutionen vorab im Bildungsbereich, im Sozial- und im Gesundheitswesen sowie bei IT-Firmen, etwa der Abraxas Informatik AG, wo er heute noch Verwaltungsrat ist. Von 2012 bis 2016 war er Mitglied und ab 2017 Präsident des Regionalkomitees der Pro Senectute Stadt St. Gallen. Als Regionalpräsident wurde er 2017 gleichzeitig Mitglied des Stiftungsrats von Pro Senectute Kanton St. Gallen, den er inzwischen seit gut einem Jahr präsidiert. mw.
 
  
Renato Resegatti: «Um den Bedürfnissen der älteren Menschen auch in Zukunft gerecht zu werden, ist Solidarität erforderlich - innerhalb der Generation der älteren Menschen, aber auch zwischen den Generationen» Bild: zVg.